Margarita Högele in den Straßen von Ramtha Foto: privat

Die Ludwigsburger Ärztin Margarita Högele hat drei Monate an der syrischen Grenze gearbeitet. Sie hat grausame Verletzungen behandelt, der Einsatz hat ihr Leben verändert – dennoch will sie so schnell wie möglich dorthin zurück.

Ludwigsburg - Drei Monate lang war die Ludwigsburger Ärztin Margarita Högele in Jordanien, direkt an der syrischen Grenze, und hat für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen Kriegsopfer versorgt. Die 57-Jährige ist in eine andere Welt eingetaucht, statt um Handverletzungen wie in ihrer Heimat musste sie sich plötzlich um Schuss- und Bombenverletzungen kümmern. Im Interview spricht sie über die teils furchtbaren Erlebnisse.

Frau Högele, drei Monate waren Sie an der syrischen Grenze, am Rand des Kriegsgebiets. Seit einigen Wochen sind Sie zurück in Ludwigsburg, arbeiten wieder an der Orthopädischen Klinik in Markgröningen, in einer anderen Welt. Finden Sie sich noch zurecht?
Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an diese Zeit zurückdenke. Als ich in Jordanien ankam, habe ich nach drei Tagen gedacht: hier gehöre ich hin. Als ich zurückkam, hat es länger gedauert.
Warum?
Ich vergleiche die Lebenssituationen dort und hier, größer könnten die Unterschiede nicht sein. Mir war immer bewusst, wie gut es mir geht, welches Glück wir haben, im Frieden zu leben – denn das ist nicht selbstverständlich. Mein Blick auf viele Dinge hat sich verändert. Und ich habe natürlich immer noch diese Bilder im Kopf.
Welche Bilder?
Ich habe in Deutschland lange in der Unfallchirurgie gearbeitet, aber Kriegsverletzungen wie in Jordanien habe ich nie zuvor gesehen. Minen- und Explosionsverletzungen, Schussverletzungen, Brandverletzungen. Menschen, die nach Bombenangriffen versprengte Metallteile überall im Körper haben, die unter Häusern verschüttet waren. Kopfverletzungen. Viele Menschen mit schwersten Verletzungen von Kopf bis Fuß. Besonders belastend war, wenn innerhalb von sehr kurzer Zeit 15 Schwerstverletzte gleichzeitig ankamen.
Das kam häufig vor?
Ja. Eigentlich kamen die Verletzten immer in Schüben. Wenn irgendwo ein Angriff passiert war, dauerte es meist nicht lange. Das hat mir im Vorfeld am meisten Angst gemacht. Aber wir waren ein so gutes und eingespieltes Team, dass wir das bewältigen konnten. Irgendwann spürte ich: wir kriegen das hin, komme was wolle. Ein großes Problem sind aber die Querschnittgelähmten, die eine ganz besondere medizinische Betreuung benötigen – das kann man dort vor Ort kaum leisten.
Davon gibt es viele?
Anfangs habe ich das nicht verstanden, aber dann das Muster erkannt. Das sind Opfer von Snipern, Scharfschützen, die ihre Schüsse in den Nacken so platzieren, dass die Opfer nicht sterben, aber danach gelähmt sind.
In Markgröningen sind Sie Oberärztin in der Handchirurgie, in Jordanien waren sie plötzlich von Tod und Krieg umgeben. Wie bewältigt man das?
Ja, ich habe dort viele Tote gesehen. Manche kamen tot bei uns an, sie haben den Transport nicht geschafft. Aber wir haben sehr viele retten können. Es haben in unserem Krankenhaus deutlich mehr Menschen überlebt, als dass Menschen gestorben sind. Ich bin völlig eingetaucht in diese Situation, hatte kaum Kontakt nach Deutschland, weil ich gemerkt habe: das passt nicht. Ich habe nur regelmäßig mit meinem Mann und meinen beiden Kinder telefoniert, und sonst nichts anderes gemacht als zu arbeiten. Es gab keine Freizeitaktivitäten, nur die Gespräche innerhalb der Gruppe. Ich denke, nur mit diesem Fokus kommt man da durch.
Sie waren für Ärzte ohne Grenzen in einem Krankenhaus in Ramtha, von dort sieht man die Grenze. Abgesehen von den Verletzten: was bekommt man da mit vom Krieg?
Man hört den Krieg, hört wie Bomben fallen, Schusswechsel.
Hatten Sie Angst?
Es gab keine Situation, in der ich dachte, dass wir in akuter Gefahr sind. Schlimm war, als wir hörten, dass das US-Militär in Kunduz ein Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen bombardiert hat. Das ging uns allen sehr unter die Haut. Aber ich habe mich nie unsicher oder bedroht gefühlt.
Noch immer ist unklar, wie es zu diesem Luftschlag in Afghanistan kommen konnte. Macht Sie das wütend?
Ich glaube, Traurigkeit würde es besser treffen. Aber ich kann mich auch nicht ganz von Wut freisprechen. Dass ein Krankenhaus zerstört wird, dass diese essenziellen humanitären Regeln gebrochen werden – da fragt man sich schon: wie weit ist es gekommen?
Mit welchen Mitteln konnten Sie den Menschen, den Opfern des syrischen Bürgerkriegs, helfen?
Bei Ramtha befindet sich einer der wenigen Grenzübergänge, der noch passierbar ist. Es ist ein kleiner Ort mit einem Krankenhaus, und Ärzte ohne Grenzen hat darin Räume gemietet. Das ist ein überwiegend chirurgisches Projekt mit Mitarbeitern aus der ganzen Welt. Außer mir gab es eine weitere Chirurgin und eine Anästhesistin, außerdem eine Allgemeinmedizinerin aus Schweden, natürlich Krankenschwestern, Leute, die sich um die Versorgung und den Nachschub kümmern. Hinzu kommen die einheimischen Ärzte.
Wie viel Platz gibt es dort?
Ärzte ohne Grenzen hat dort ein Intensivbett, eine Akutstation mit zehn Betten und drei Räume mit jeweils acht bis zwölf Betten für Patienten, die nicht mehr ganz so aufwendig versorgt werden müssen.
Wird in Ramtha jeder behandelt? Konkret gefragt: kann es sein, dass in den Zimmern ein IS-Kämpfer neben einem Assad-Anhänger liegt?
Wir behandeln jeden, und wir fragen nicht. Ich möchte es auch nicht wissen. Ärzte ohne Grenzen ist neutral und unabhängig, das hat mir immer gefallen. Es geht um Menschen, die in Not sind. Den Rest haben wir nicht zu beurteilen.
Haben Sie auch Soldaten behandelt?
Nein, für Soldaten gibt es in Syrien Krankenstationen.
Gab es Feindseligkeiten oder Aggressivität unter den Patienten?
Überhaupt nicht, nie. Die merken sehr genau, dass die Ärzte dort freiwillig arbeiten und nur ihr Leid lindern wollen, ohne Partei zu ergreifen. Sie sind dankbar, bescheiden, extrem freundlich, sie wollen in Frieden leben. Ich habe dort niemanden getroffen, der schwierig war. Das macht mich fast verrückt. Man denkt: es muss doch möglich sein, mit einer solch friedlichen Bevölkerung Frieden zu schaffen.
Haben Sie über den Krieg gesprochen?
Ich habe zwar etwas Arabisch gelernt, aber nicht genug. Außerdem wollten die meisten das nicht, bei dem Thema waren sie sehr verschlossen.
Wie kommen die Patienten nach Ramtha?
Es gibt in Syrien noch mehrere Standorte, an denen eine Basisversorgung möglich ist. Von dort wurden die Verletzten dann zu uns in die Notaufnahme transportiert.
Sind dort viele Kinder?
Ja, sehr viele. Auch viele unbegleitete Kinder, ganz ohne Familie. Die Unicef kümmert sich darum, sie dauerhaft unterzubringen. Außerdem gibt es ein Team von Psychologen, das hilft, die Traumata und Erlebnisse aufzuarbeiten.
Was machen die Patienten, wenn es ihnen körperlich wieder besser geht?
Es gibt viele verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Jordanien und Syrien, die Leute sind gut vernetzt. Viele Syrer finden Verwandte oder Bekannte in Jordanien, bei denen sie unterkommen. 30 Kilometer von Ramtha entfernt ist zudem ein Flüchtlingslager, das wir mit betreut haben. Aber viele Syrer gehen auch zurück nach Syrien, weil das ihre Heimat ist.
Und viele andere flüchten in Richtung Europa. Wie beurteilen Sie die Debatte über die Flüchtlingskrise in Deutschland?
Ich denke, es ist unsere Pflicht, diese Menschen hier aufzunehmen, zu versorgen und zu integrieren. Ich habe dort die Erfahrung gemacht, dass die allermeisten Syrer nichts anderes wollen, als zurück in ihr Heimatland zu gehen. Aber dieses Land liegt in Schutt und Asche, und deshalb müssen wir, bis dieser Konflikt gelöst ist, helfen. Ich weiß nicht wie und wann – aber wenn es möglich ist, werden die meisten Flüchtlinge zurückgehen wollen.
Haben Sie diesen aus europäischer Perspektive kaum zu verstehenden Konflikt nun besser verstanden?
Nein. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass es mit noch mehr militärischer Einmischung von außen besser wird, aber ich weiß auch keinen Weg. Und ich bin wirklich verzweifelt darüber. Es ist ein derart furchtbares Knäuel von verschiedenen Konfliktebenen mit so vielen unterschiedlichen Beteiligten und Interessen – ich kann nicht im Ansatz einen Weg erkennen. Es macht mich fassungslos.
Haben Sie eine Idee davon bekommen, wer die treibende Kraft hinter diesem Krieg ist? Wer die meiste Schuld daran trägt?
Alle, die beteiligt sind, tragen Schuld. Alle sind zu fokussiert auf ihre Ziele, sind zu wenig friedensbereit. Das ist der Vorwurf, den ich allen Kriegsparteien machen würde.
Sie sind gläubige Christin. Was war Ihr Antrieb, sich bei Ärzte ohne Grenzen zu engagieren?
Ich wollte so etwas schon sehr lange machen, aber wie das Leben so spielt: ich habe geheiratet, Kinder bekommen, es gab keine Gelegenheit. Jetzt sind meine Kinder erwachsen, und es hat gepasst. Ich denke, als Ärztin gehört es dazu, dass man seine Fähigkeiten dort einbringen möchte, wo man am meisten helfen kann, am meisten gebraucht wird. Humanitäre Hilfe gehört für mich selbstverständlich zum Christentum, aber mein Glaube war in diesem Fall nicht die treibende Kraft.
Wollen Sie noch mal zurück dorthin?
Auf jeden Fall. Was ich wahnsinnig gerne machen würde: wenn es irgendwann möglich ist, in Syrien Aufbauhilfe leisten.
Aber das ist nicht absehbar.
Ich habe Ärzte ohne Grenzen schon mitgeteilt, dass ich Ende dieses oder Anfang des kommenden Jahres wieder etwas machen will, das ist fest geplant.
Wieder nach Ramtha?
Nicht unbedingt. Ich würde auch überall sonst hingehen, wo ich gebraucht werde. Aber ich denke, im Moment wird in dieser Region Hilfe besonders dringend benötigt.
Was sagt Ihre Familie dazu?
Die war natürlich sehr froh, als ich gesund zurück war. Aber mein Mann und meine Kinder wissen, wie wichtig mir das ist. Sie würden mich unterstützen.
Und Ihr Arbeitgeber, die Orthopädische Klinik in Markgröningen?
Für diese ersten drei Monate hatte ich Überstunden und Urlaub angesammelt, aber das Kontingent ist jetzt aufgebraucht. Aber es gibt ja auch die Möglichkeit, unbezahlten Urlaub zu nehmen. Mal sehen, ich bin auch nicht mehr ganz jung. Vielleicht gebe ich die Stelle irgendwann auf und arbeite nur noch für Ärzte ohne Grenzen.
Trotz all des Leids, der Toten, der Verletzten: was haben Sie Positives aus Jordanien mitgenommen?
Enorm viel. Ich habe mehr mitgenommen, als ich gegeben habe. Ich bin reicher zurückgekommen. Natürlich war ich manchmal zornig, wenn ich gemerkt habe, dass ich den Menschen dort nicht so helfen kann wie ich es in Deutschland könnte, weil die Mittel begrenzt sind. Aber es macht wirklich einen großen Unterschied, ob wir dort sind oder nicht. Wir können dort viel bewegen. Und das zu wissen und zu spüren, ist ein unglaublich gutes Gefühl.