Lothar de Maizière führte die DDR und die Ostdeutschen in die Deutsche Einheit. Foto: dpa/Soeren Stache

Er führte die erste frei gewählte DDR-Regierung an und verhandelte über den Weg zur Einheit. Heute fragt sich de Maizière: Wie soll die Gesellschaft künftig funktionieren, wie definiert sich Solidarität? Nach Ruhestand sieht das nicht aus.

Berlin - Lothar de Maizière kann nicht aufhören. Der erste frei gewählte und zugleich letzte DDR-Ministerpräsident arbeitet weiter als Rechtsanwalt in Berlin. Die Arbeit mache ihm immer noch Spaß, sagt er im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Der Mann, der die Ostdeutschen in die Einheit führte, wird am 2. März 80 Jahre alt. Einen großen Empfang wie noch zum 70. plane er nicht, sagt der Jurist, der nach dem Mauerfall blitzartig in der Weltpolitik landete.

Realitätsverlust bei Honecker und Kohl

De Maizière hat viele Facetten: Kritischer Feingeist, langjähriges CDU-Mitglied, Hobby-Musiker, Familienmensch, Bulettenliebhaber, Hundefreund. Dass er nur ein halbes Jahr in der Politik entscheidend mitmischte, bedauert der Mann der nachdenklichen Töne nicht. Er habe sich damals in die Pflicht nehmen lassen.

Der Rechtsanwalt meint: Wer lange in führender Position sei, bei dem stelle sich ein gewisser Realitätsverlust ein. Das habe man zum Schluss bei SED-Chef Erich Honecker und auch bei Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) gesehen.

Über Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die bei de Maizière einst Vize-Regierungssprecherin war, sagt er, sie sei nicht mehr viel Kritik gewohnt. Vor zehn Jahren, zu seinem 70. Geburtstag, kam Merkel persönlich und würdigte den Ostdeutschen als Förderer der deutschen Einheit, als Mahner und Bewahrer von Werten.

Keine Wahl zum gesamtdeutschen Bundestag 1990 war großer Fehler

De Maizière wurde DDR-Ministerpräsident, nachdem im März 1990 überraschend die Allianz für Deutschland mit der Ost-CDU an der Spitze die Wahlen zur Volkskammer gewonnen hatte. Der Ostdeutsche ohne politische Erfahrung verhandelte mit Michail Gorbatschow und erklärte dem sowjetischen Staatsmann, er komme nicht zum Befehlsempfang. Er trank mit der britischen Regierungschefin Margaret Thatcher Tee und war zu Besuch im Weißen Haus in Washington. Er war überzeugt, dass es keine Alternative zur Einheit gab.

Heute meint der Ex-Politiker, auch wenn die demokratische DDR 1990 nur kurz bestand, habe sie Geschichte geschrieben und zum Ende des Kalten Krieges beigetragen. Doch dass im Dezember 1990 nicht ein „Erster gesamtdeutscher Bundestag“ gewählt wurde, wie er es als Symbol für die Wiedervereinigung vorgeschlagen habe, sieht de Maizière bis heute als Fehler.

„Das hätte auch den Menschen im bayerischen Wald klar gemacht, dass eine neue Zeitrechnung anfängt“, sagt er. Doch es wurde einfach der 12. Deutsche Bundestag gewählt. „Es ist alles so geblieben, als würde nur die Bundesrepublik fortgeschrieben.“ Und wie über Ostdeutsche gesprochen werde, „das passt mir nicht“, so de Maizière.

Der Anwalt fordert mehr Respekt. „Es macht sich bis heute keiner klar, wie schwer es viele hatten, als ihr Arbeitsplatz wegfiel.“ Ein großer Teil habe bis heute kein Vermögen bilden können. „Freiheit macht mit vollem Portemonnaie mehr Spaß“, klingt es denn etwas sarkastisch. Und noch etwas: Nicht eine von mehr als 80 deutschen Hochschulen habe einen ostdeutschen Rektor.

Nach Stasi-Vorwürfen Ämter niedergelegt

Nach der Wiedervereinigung verschwand der zum Stellvertreter von CDU-Chef Kohl Aufgestiegene und Minister für besondere Aufgaben bald wieder. Nach Stasi-Vorwürfen und Querelen mit der Bundes-CDU legte er im Herbst 1991 alle Ämter nieder. Dieser Schritt habe ihm das Gefühl von innerer Freiheit gegeben, notierte de Maizière später in seinem Buch „Ich will, dass meine Kinder nicht mehr lügen müssen“.

Dort schrieb er auch, er habe als Anwalt mit der DDR-Staatssicherheit zu tun gehabt, um Ausreisen für inhaftierte Oppositionelle zu erreichen. Doch: „Inoffizieller Mitarbeiter war ich nie.“ Später bescheinigte die Stasi-Unterlagen-Behörde, dass es keine Anhaltspunkte für eine Spitzeltätigkeit gab.

De Maizière wurde Jurist, nachdem er seinen Musikerberuf aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste. Doch als Hobby spielt er bis heute Bratsche. „Ich müsste nur mehr üben.“ Aus seiner Freundschaft zu Gregor Gysi, seinem damaligen Anwaltskollegen und heutigem Linken-Politiker, hat de Maizière nie einen Hehl gemacht.

Peter-Michael Diestel, in der Regierung de Maizière Innenminister und dessen Stellvertreter, beschreibt in einem Rückblicks-Buch seinen damaligen Chef als kultivierten, sensiblen Menschen, der keiner Fliege etwas zuleide habe tun könne. „Selbst wenn er unter mörderischem Druck stand.“ Der heute 68-jährige Diestel war im August 1990 von der DSU zur CDU gewechselt.

SPD-Politiker: De Maizière war eigensinnig und rechthaberisch

Eine ganz andere Sicht hat Markus Meckel, Außenminister für die SPD in der damaligen Koalition. Er habe de Maizière als eigensinnig und rechthaberisch erlebt, der sich nicht an Absprachen gehalten habe, sagt der 67-Jährige der dpa. „Wirklich politische Führungsfähigkeit hatte er nicht.“ Die Koalition zerbrach im August 1990, die SPD-Minister schieden aus. De Maizière hatte der SPD damals Flucht aus der Verantwortung vorgeworfen. Demnächst will Meckel ein Buch mit seinen Erinnerungen an die aufregende Zeit nach dem Mauerfall vorlegen.

Thomas de Maizière, früherer CDU-Bundesinnenminister, ist der Cousin des Ostdeutschen de Maizière. Die Kontakte seien auch während der Teilung nie abgerissen, „Thomas war die Schaltstelle im Westen, ich im Osten.“ Die jährlichen Familientreffen mit Rede und Diskussion gebe es bis heute, erzählt Lothar de Maizière, der Frau, fünf Töchter, elf Enkel und fünf Urenkel hat. Damals traf man sich in Ost-Berlin, „jetzt sind wir ein Wanderzirkus.“