Ein Aktivist der Umweltschutzorganisation 'Robin Wood' besetzt einen Baum im Schlossgarten Foto: dpa

Nicht von ungefähr hat sich der heftigste Konflikt um S21 an Bäumen entzündet.

Stuttgart - Nicht von ungefähr entzündeten sich die bisher heftigsten Auseinandersetzungen um das Verkehrs- und Städtebauprojekt Stuttgart 21 im unmittelbar an den Hauptbahnhof angrenzenden Schlossgarten. Was aber bringt den Menschen die Bäume in besonderer Weise nahe? Unser Gastautor sucht eine Antwort.

Am 1. Oktober wurde eine Stunde nach Ablauf der Vegetationsperiode mit dem Fällen von Bäumen im Schlossgarten begonnen. Daran glauben musste auch eine rund 150 Jahre alte Platane. In wenigen Minuten klein geschreddert und als Abfall abtransportiert. Ein Prachtexemplar, Zeitzeuge über Generationen. Der Dichter Eduard Mörike, häufiger Besucher des historischen Schlossgartens, ging darunter spazieren.

Bäume speichern die gemeinsame Erfahrung

Gefahr droht den Bäumen indes nicht erst in diesen Tagen. 1975 formulierte Helmut Fritz in seinem Gedicht "Bäume": "Wieder hat man in der Stadt, um Platz zu schaffen, / Platanen gefällt. / Sie wussten viel. / Wenn wir in ihrer Nähe waren, begrüßten wir sie als Freunde / Inzwischen ist es fast zu einem Verbrechen geworden, / nicht über Bäume zu sprechen, / den Frieden, / an den sie uns erinnern."

"Bäume sind Lebewesen wie wir, "sind Heiligtümer, sind wie große, vereinsamte Menschen", schrieb der Dichter Hermann Hesse. Bäume speichern die gemeinsame Erfahrung, die Weisheit der Menschheit. In allen Kulturen, den "primitiven" ebenso wie den "hoch entwickelten" werden sie verehrt, in Mythen, in Märchen, in Sagen, in Fabeln, als Sitz der Götter, guter und böser Mächte, als Sinnbild allumfassender Einheit. Blicken wir auf Beispiele: In Platons "Phaidros" im vierten Jahrhundert vor Christus, finden die Gespräche zwischen Sokrates und Phaidros im Schatten der höchsten Platane am Fluß Ilissos statt, Jupiter umarmte dort Europa, ob ihres hohen Ansehens wurden sie mit Wein begossen. Für Maler und Dichter waren und sind Bäume schon immer ein beliebtes Motiv - denken wir nur an Bilder von Caspar David Friedrich, Gustave Courbet, Vincent van Gogh oder Claude Monet. Über die Faszination Baum noch einmal Hermann Hesse: "Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiß, erfährt die Wahrheit. Sie predigen nicht Lehren und Rezepte, sie predigen das Urgesetz des Lebens."

Auch Goethe schreibt in den Briefen an Charlotte von Stein: "Sag ich's euch, geliebte Bäume/ die ich ahndevoll gepflanzt / als die wunderbarsten Träume / morgenrötlich mich umtanzt. / Wachset wie aus meinem Herzen, / Treibet in die Luft hinein; / Denn ich grub viel Freud und Schmerzen / unter eure Wurzeln ein."

"Wie viele Bäume werden gefällt ... in uns"

Diese Sicht, dieses Wissen, diese Betrachtungsweise, diese Gemeinsamkeit zwischen uns und der Natur ist weitgehend verloren gegangen. Zugleich aber reagieren wir noch immer auf ein Urgefühl - anders wäre wohl weder die Gestalt von Baumbart in Tolkiens "Herr der Ringe" noch der Erfolg von James Camerons 3-D-Kinoabentuer "Avatar" zu erklären. In Letzterem zerstört die private Investoren begleitende Armee den Baum des Lebens eines Waldvolkes.

Dennoch dominieren im allgemeinen Bewusstsein andere Merkmale - etwa Fragen der Effizienz. Und so ist vor einem psychischen Ausverkauf der Seelenreservate zu warnen. Dort, wo im Rahmen von Stuttgart 21 der Aushub für den Tiefbahnhof den Schlossgarten aufschlitzen soll, war die Keimzelle, der Geburtsort, die Idee, der Namensgeber unserer Stadt. Stuttgart: die Stadt der Gärten und Parks. Sieben Garten- und Park-Schichten verschiedener Zeitschichten der Stadt sind dort aufeinander geschichtet: vom Stutengarten einer ursprünglich militärischen Anlage über die Lustgärten der Renaissance, den barocken Park, die Schichten des klassizistischen und englischen Landschaftsparks des 19. und die Gartenschauen des 20. Jahrhunderts. Alles, was wir heute dort erleben und sehen, vor allem die Jahrhunderte alten Bäume, sind Spuren, Ablagerungen dieser Schichten.

"Wie viele Bäume werden gefällt ... in uns."

Bäume sind nicht nur Einzelwesen Dem jeweiligen Zeitgeist entsprechend wurden sie zu einem "pittoresken Gesamtkunstwerk" gefügt. Einzelne Bäume, meist Platanen, Strauch- und Baumgruppen, wurden den Regeln des Englischen Landschaftsgarten huldigend so im Wiesengrund gepflanzt, dass Blickrichtungen, -bezüge, Räume, Zwischenräume und Übergänge zwischen geplanter und freier Landschaft entstehen.

Nachempfunden wurde dies dem bereits fertig gestellten Englischen Garten. So entstanden unser weit über Stuttgart hinaus berühmter Schlossgarten und der Rosensteinpark. Jeder Baum hat seine Geschichte, ist Gedächtnis, kündet von den Absichten unserer Ahnen, hat an seinem Standort bestimmte räumliche und historische Funktionen zu erfüllen, Botschaften und Bedeutungen mitzuteilen. Ein Eingriff ist damit ein Eingriff in das Gedächtnis der Stadt.

Neben ihrer Bedeutung für das geistige Klima, das Gedächtnis, die Geschichte, den Charakter der Stadt leisten die Bäume auch für das klimatisch-ökologische Klima der Stadt enorme Dienste. Gerade auch in Stuttgart mit seiner einmaligen topo- und geografischen Situation.

Eine Formel drückt die lebenswichtige Bedeutung aus: 6 CO2 + 6 H2O + Sonnenlicht = C6H12O6 + 6 O2. Bei der Fotosynthese nimmt der Baum sechs Moleküle Kohlenstoff, durch seine Wurzeln sechs Moleküle Wasser auf und bildet dann unter der Einwirkung von Sonnenlicht ein Molekül Zucker, das er bei sich behält, und sechs Moleküle Sauerstoff, die er durch seine Blätter in die Luft, also an uns abgibt. Bäume und Pflanzen atmen. Es geht nicht nur um Gebäude, um den Bahnhof, nicht nur um den Schlossgarten. Der Dichter Rainer Kunze formulierte es 1990 so: "Wie viele Bäume werden gefällt / wie viele Wurzeln / gerodet / in uns."

Unser Autor arbeitet als Architekt in Stuttgart und hat Ideenskizzen für Alternativprojekte zu Stuttgart 21 entwickelt