Hüpfend zurück ins Leben: Julie (Maja Schöne, links) und Luise (Mila Zoe Meier) spielen Seilspringen mit Liliom (Jörg Pohl). Foto: Matthias Horn

Bei den Salzburger Festspielen inszeniert der Regisseur Kornél Mundruczó „Liliom“, das berühmteste Stück seines Landsmanns Ferenc Molnár. Die hundert Jahre alte Vorstadtlegende umhüllt er mit gleißender Gegenwart – und das funktioniert hervorragend.

Stuttgart - Zu Lebzeiten ist Liliom ein böser, brutaler Mensch gewesen. Nicht mit Worten, mit Fäusten hat er gesprochen und seine Frau „grün und blau geschlagen und ihren Kopf gegen das Fenster geknallt“, wie ihm beim Verhör im Himmel vorgehalten wird. Sechzehn Jahre schmorte er im Fegefeuer, doch jetzt darf er für einen Tag zurück auf die Erde, um seine Läuterung zu beweisen. Und was machen seine Frau Julie und seine Tochter Luise, die er noch nie zuvor gesehen hat, mit ihm? Seilhüpfen! Seilhüpfen, damit der Puls des toten Manns wieder in Gang kommt, was bei diesem harten Brocken nicht auf Anhieb klappt. „Na?“ fragt hoffnungsfroh die Luise der Mila Zoe Maier, Schauspielerin mit Downsyndrom, als die Julie der Maja Schöne ihre Hand wieder und wieder aufs Herz des Liliom legt. Na? Aber noch ist es nichts mit der Wiederauferstehung, noch muss der Liliom des Jörg Pohl um sein Leben hüpfen, hüpfen, hüpfen – hinein in die Finsternis, die jetzt jäh auf die Bühne fällt.

Das Spiel ist aus, das Ende der Menschwerdung offen: Das signalisiert das poetische Schlussbild der Aufführung, die Kornél Mundruczó bei den Salzburger Festspielen zeigt. Mundruczó, der sich auch als Filmregisseur bei den Festivals in Cannes und Locarno einen Namen erarbeitet hat, ist Ungar und hat zum weltberühmten Schauspiel seines Landsmanns Ferenc Molnár eine besondere Beziehung: Mit „Liliom“ aufgewachsen, ist er als Experte auch mit der langen Inszenierungstradition der 1909 in Budapest uraufgeführten „Vorstadtlegende“ vertraut – einer Tradition, die er für rückwärtsgewandt hält, weil sie die Härte und Brutalität des Stoffs allzu oft in ein romantisch-verklärtes Volksstück gepackt und damit unterschlagen hat.

Anmutiges Roboterballett

Dass Molnár, der zwischen Budapest und Wien pendelte und seinen Vornamen zu Franz eindeutschte, in dem Stück eine einfache Geschichte erzählt, heißt nicht, dass sie harmlos wäre. Sie spielt im Prekariat: Liliom ist ein Karussell-Ausrufer, dem die Mädchen reihenweise verfallen. Solange das dem Rummelplatz-Geschäft förderlich ist, drückt die Chefin, die auch was mit ihm hat, ein Auge zu, doch als er mit der Dienstmagd Julie anbändelt, feuert sie ihn: Liebe verstößt gegen die Regeln. Liebe? Liliom behandelt Julie wie ein Zuhälter seine Nutte, sie duldet es und bekommt ein Kind von ihm, worauf der werdende Vater sich plötzlich seiner Verantwortung bewusst wird: Um „Geld zu verdienen“ führt er mit seinem Kumpel einen Raubüberfall durch, der jämmerlich scheitert. Der Verhaftung kann sich der Rauf- und Saufbold mit einem tödlichen Messerstich gerade noch entziehen, aber nicht dem himmlischen Gericht – und Mundruczó wiederum entzieht sich dem Kitschverdacht, indem er die hundert Jahre alte Legende, die er im Kern unversehrt lässt, mittels eines genialen Einfalls in geradezu gleißende Gegenwart hüllt.

Auf der Bühne in Hallein steht kein Karussell, kein Ringelspiel, kein Rummelplatz. Statt süßer Nostalgie: modernste High-Tech in Form zweier vier Meter hoher Roboterarme, die aber keine Autos zusammenschrauben, sondern das Budapester Stadtwäldchen aufbauen. Ferngesteuert greifen sie sich im Dämmerlicht die Akazien am Bühnenrand und platzieren sie in der Bühnenmitte, derart das Setting fürs vermurkste Leben von Liliom und Julie schaffend– ein anmutiges, von Elektroklängen untermaltes Roboterballett, das auch den Mond aufgehen lässt und von Station zu Station weite Assoziationsräume öffnet: Gott schickt seine Greifarme auf die Erde, um Schicksale zu formen – und während sich der Selbstmörder Liliom gekrümmt, zum Denkmal des kleinen Ganoven erstarrt auf einer Scheibe im Kreis dreht, wird er von den Robotern des Allmächtigen wie in einer Lackiererei mit Blut besprüht: das Strafgericht, voll automatisiert – eines von vielen grandiosen Bildern, mit denen Mundruczó in seiner Märchentragödie die Zeiten und Sphären ineinanderfallen lässt.

Die Engel sind gegendert

Gottes Robotern ist aber noch mehr zu verdanken als diese Verklammerung. Mit ihrer perfekten Technik stehen sie im allerschärfsten Kontrast zu den unperfekten Menschen, über die sie in ihrem Kontrollraum wachen. Liliom, Julie und ausnahmslos alle Menschen ihres Milieus können sich nicht steuern. Die Gefühle kommen wie eine Naturgewalt über sie. Animalisch folgen sie ihren Liebestrieben, von denen sie hin und her geschleudert werden: Maja Schöne, im Stuttgarter „Tatort“ lange Zeit die spielerisch unterforderte Ehefrau von Felix Klare, zeichnet ihre Julie als rotziges Girlie, das sich der aus der sexuellen Hörigkeit nicht befreien kann und ihren gewalttätigen Liebhaber sogar verteidigt. „Es muss auch solche geben“, sagt sie duldend, nachdem Liliom sie wieder misshandelt hat – und Liliom, wie er von Jörg Pohlverkörpert wird, reichert sein widerliches Mackerturm mit soviel Vitalität an, dass seine Animalität für Frauen auf glaubhafte Weise attraktiv erscheint. Er ist ein Mann des Körpers, nicht der Worte – und dass dieser auch vom Rest des Ensembles toll gespielte „Liliom“ nicht zuletzt ein Drama der Sprachlosigkeit ist, wird nirgends deutlicher als im Himmel, wo sich der Titelheld vorm Chor der Engel rechtfertigen muss.

Liliom trifft auf eine heutige, queer besetzte Engelschar, die mit allen Diskurswassern gewaschen ist. Weil er sie nicht versteht, muss er zur Strafe hundert Mal „Ich bin ein Teil des repressiven patriarchalen Systems“ auf die Himmelsmauer schreiben. Auch diesen Satz versteht er nicht – und abgesehen davon, dass die Regie hier, was den Witz anlangt, Monty Python zitiert und sich andernorts, in der Video-Ästhetik, bei Frank Castorf bedient, legt Kornél Mundruczó in seiner Koproduktion mit dem Hamburger Thalia-Theater doch eine sehr originelle Molnár-Lesart vor: bildstark und poetisch, den Technikgott immer verblüffend an seiner Seite.