Der Autor und ehemalige Bürgermeister Henning Scherf im Gespräch mit der Journalistin Christine Keck. Foto: Alexandra Kratz

Der Autor und ehemalige Bürgermeister Henning Scherf ist Gast bei der Auftaktveranstaltung zum siebten Vaihinger Lesefest gewesen. Er wirbt für Mehrgenerationenprojekte.

Büsnau - Er sei ein Schönfärber und ein Optimist. Das war Henning Scherfs Antwort auf die Frage einer Zuhörerin, ob es in einem Mehrgenerationenhaus nicht auch Probleme und Streit gebe. „Natürlich gibt es das“, entgegnete Scherf. Aber er und seine Mitstreiter hätten gelernt, darüber zu reden. Das sei der erste Schritt zur Konfliktlösung. „Das haben wir von unseren Frauen gelernt. Wir Männer verstummen ja immer nur, wenn wir uns über jemanden geärgert haben“, sagte Scherf mit einem Augenzwinkern.

Mehr als eineinhalb Stunden lang erzählte der Autor und ehemalige Bremer Bürgermeister am Montagabend über das Leben in Mehrgenerationenhäusern. Die Journalistin Christine Keck von der Redaktionsgemeinschaft Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten moderierte die Veranstaltung. Es war der Auftakt zum siebten Vaihinger Lesefest. Mitarbeiter und Freunde des Kinderhauses Büsnau hatten dieses wieder in einen liebevoll dekorierten Lesetempel verwandelt. Dort stehen bis zum 18. November 45 Autorenlesungen mit 13 verschiedenen Autoren für 92 Schulklassen beziehungsweise 2000 Kinder auf dem Programm. Bevor es richtig losgeht, gibt es aber traditionsgemäß etwas für die Organisatoren, die Sponsoren und die erwachsenen Freunde des Lesefests.

Henning Scherf lebt seit 1987 in einer WG

Eines wurde bei der diesjährigen Veranstaltung deutlich: Scherf ist ein Überzeugungstäter. Seit 1987 lebt er in einem Mehrgenerationenhaus mit insgesamt zehn Leuten. Es ist ein altes Haus mitten in Bremen. Derzeit wohnen dort sechs Senioren und vier junge Erwachsene. Alle zusammen haben nur ein Auto. Sie achten aufeinander und helfen sich. Das seien die Grundsätze, sagte Scherf. Es sei kein patriarchisches System. „Das wäre ja von vorgestern. Das hätte vielleicht Ende des 18. Jahrhunderts noch funktioniert“, sagte Scherf. Nein, bei ihnen im Haus werde alles einvernehmlich geregelt. Es gebe keine Mehrheits- und keine Minderheitsentscheidungen. „Und wir machen keinen Unterschied zwischen Eigentümern und Mietern“, so Scherf.

Eine Zeit lang lebte Dorothee mit im Haus. Sie war mit ihren drei Kindern, darunter ein Baby, aus Nigeria geflohen. Scherf brachte den beiden sieben- und achtjährigen Söhnen schwimmen und Radfahren bei. Er liebt den Umgang mit Kindern. „Das hält mich am Leben“, sagte Henning Scherf.

Jedes Jahr ein fast biblisches Weihnachten

Darum liest der überzeugte Sozialdemokrat auch an einer Bremer Grundschule vor. Es ist eine Schule, an der Mehr als 70 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund haben. „Ich lese sehr anspruchsvolle Texte. Man kann mit Kindern wunderbar ernste Gespräche führen“, sagte Scherf. Für ihn sei es ein Glücksgefühl, wenn die Mädchen und Jungen ihm vertrauen. „Alte Menschen sollten regelmäßig Kontakt zu Kindern haben. Das ist etwas Kostbares. Und wer keine eigenen Enkel hat, sollte sich welche suchen“, warb Scherf für das Leihgroßeltern-Modell.

Wie wichtig das für alte Menschen ist, wird Scherf auch immer wieder an Weihnachten bewusst. Denn dann kommen viele Gäste in das Generationenhaus. Alle beteiligen sich am gemeinsamen Essen. Gekocht wird gemeinsam, oder besser gesagt: jeder steuert was zum Festmahl bei. Auch das Geschirr muss zusammengetragen werden. Und abends wird für die Kinder ein Matratzenlager aufgebaut, weil es gar nicht genug Betten gibt. „Das ist schon fast biblisch“, sagte Scherf und lachte.

Doch es gab an dem Abend auch viele ernste Momente. Die WG-Bewohner begleiteten bereits zwei ihrer Freunde in den Tod. Sie waren rund um die Uhr für ihre Mitbewohner da, auch nachts. „Freundschaft erweist sich erst in schwierigen Situationen als wahre Freundschaft“, sagte Scherf. Am Ende der Veranstaltung wollte Christine Keck von ihrem Gast wissen: „Tut alt werden weh?“ Diese Frage war ihr von ihrer fünfjährigen Nachbarin aufgetragen worden. „Jeder macht da seine eigenen Erfahrungen“, antwortete Scherf und ergänzte: „Manche haben im Alter körperliche Mühe. Aber es gibt auch erstaunlich viele, die gern alt werden und die Freiheit im Alter genießen. Also: freut euch auf das Altwerden“, so Scherfs Botschaft.