Seit diesem Jahr bedienen die Ehrenamtlichen die Gäste der Vesperkirche. Die Warteschlange ist abgeschafft. Foto: Julia Schramm

Bis zum 7. März erhalten Bedürftige und Obdachlose in der 26. Vesperkirche eine warme Mahlzeit, Gesellschaft und Unterstützung für ihren Alltag. Neu ist in diesem Jahr, dass die Ehrenamtlichen die Gäste am Tisch bedienen.

Stuttgart - Als die Stuttgarter Hymnus Chorknaben anfangen zu singen, ist die Leonhardskirche bis auf den letzten Platz voll. Der Gottesdienst am Sonntag ist zeitgleich der erste Tag der Stuttgarter Vesperkirche. Für die kommenden sieben Wochen, bis zum 7. März, erhalten Bedürftige und Obdachlose dort ein Zuhause auf Zeit – und täglich eine warme Mahlzeit. „Die Vesperkirche hat die Türen wieder geöffnet. Es ist soweit. Viele sagen sogar: endlich ist es wieder soweit“, sagte Gabriele Ehrmann, die Leiterin der Vesperkirche und Diakoniepfarrerin der Evangelischen Kirche Stuttgart.

Viele Besucher können die Eröffnung der Vesperkirche kaum erwarten

Viele Bedürftige aus Stuttgart können es kaum erwarten, wenn im Januar die Vesperkirche wieder öffnet. Eine Zeit lang haben sie eine feste Anlaufstelle in der Stadt und vor allem in der Gesellschaft. „Im Laufe der Jahre sind hier viele Beziehungen entstanden, ein großes Netzwerk“, sagte Ehrmann. Zum 26. Mal findet in diesem Jahr die Aktion statt. Für die Organisation und den reibungslosen Ablauf sorgen jährlich etwa 20 hauptamtliche Kräften der Kirche und rund 800 ehrenamtliche Helfer. „Viele Lebenswege haben sich hier zum Guten entwickelt“, sagte Ehrmann während des Gottesdienstes. Natürlich könne eine Vesperkirche die Armut nicht auflösen. „Aber manches Leid wird bei uns für sieben Wochen geteilt und miteinander getragen.“

Ziel der Aktion ist auch immer, auf die Armut aufmerksam zu machen

Es ist das dritte Jahr, in dem Ehrmann die Vesperkirche leitet. Sie hat vieles in der Zeit angestoßen, um ihren „Gästen“, wie sie die Besucher nennt, die Zeit angenehmer zu gestalten. So bezahlt inzwischen jeder Gast für das Mittagessen nur soviel, wie er kann – früher kostete das Essen 1,20 Euro. Auch hat Ehrmann die Reihe „Politiker hören zu“ eingeführt, bei der Politiker aus Stadt, Land und Bund sich mit Besuchern der Vesperkirche einen Abend lang zusammensetzen. Dabei können die Teilnehmer ihre Sorgen schildern und mitteilen, was sie sich von den Politikern wünschen. „Wir wollen Anwalt sein, für die, die bedürftig sind.“

Auch in diesem Jahr haben Ehrmann und ihr Team einige Änderungen beim Ablauf vorgenommen. „Dient einander – ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat“ ist das Motto der diesjährigen Vesperkirche. Auch im täglichen Ablauf wollen die Verantwortlichen das Motto konkret umsetzen. In diesem Jahr haben sie deshalb die Warteschlange an der Essensausgabe abgeschafft. Die Besucher bekommen ihr Essen nun an den Tisch serviert. Das war Ehrmann ein großes Anliegen. So habe jemand die Warteschlange einst als „Schlange der Schande“ bezeichnet. „Das ist nun Vergangenheit.“ Die Gastfreundschaft stehe noch mehr im Vordergrund.

Warum wird die Vesperkirche noch gebraucht? Jeder zehnte Stuttgarter etwa beziehe die Bonuscard der Stadt, sei also armutsgefährdet, so Ehrmann. Rund 2000 Menschen kauften täglich in den Tafelläden der Stadt ein, sagte die Pfarrerin.

Die Armut abschaffen kann die Vesperkirche sicher nicht. Das kritisieren viele an eben jenen sozialen Projekten wie Vesperkirchen und Tafelläden. Vielmehr würden sie sogar zur Stabilisierung der Armut beitragen. Die Kritik kann eva-Vorstand Klaus-Käpplinger zumindest nachvollziehen. Aber: „Die Vesperkirche ist konkrete Hilfe für Menschen in Not, aber auch Seismograph für den Zustand unserer Gesellschaft“, betonte Käpplinger in seiner Predigt. „Die Tatsache, dass es in unserer wohlhabenden Stadtgesellschaft Menschen, gibt, die nichts zu Essen haben, ist beschämend.“

Arme und bedürftige Menschen gehen oft unter, viele sehen ihre Not nicht. Diese Not wolle man sichtbar machen, sagte Käpplinger. Ein großes Ärgernis ist für ihn seit Jahren die Wohnungspolitik. „Beschämend“ sei es, wenn er von neuen Bauprojekten lese und dort stünde etwas von zehn bis 15 Prozent an „bezahlbarem Wohnraum“. „Sind wir schon so abgestumpft“, fragte Käpplinger. „Wohnraum ist bei uns inzwischen nur noch für eine Minderheit bezahlbar. Das ist ein Skandal!“ Ihn wundere auch durchaus, dass es dann umgekehrt 80 Prozent Wohnraum gebe, der „nicht bezahlbar“ sei. „Für wen soll der dann sein?“

Die Vesperkirche ist für viele der Besucher ein fixer Termin im Jahr. Viele kennen sich längst untereinander, weil sie seit Jahren kommen. Viele genießen es, in diesen sieben Wochen endlich Gesellschaft zu haben. „Eine Folge von Armut ist auch Einsamkeit“, sagte Käpplinger. Ein großes Problem, von Menschen, die arm werden, sei, dass sie sich immer mehr und mehr zurückziehen und Einladungen ausschlagen. „Weil es weh tut, wenn man nie eine Einladung erwidern kann.“

In der Vesperkirche gibt es für die Menschen tägliche Gesellschaft, sondern auch die Chance zur medizinischer Beratung, einen Friseur und tägliche Gottesdienste und Andachten. Ein Highlight ist das Kulturprogramm – jeden Sonntag um 16 Uhr.