In den Gebäuden am Probstsee, gibt es vier Sechser-WGs mit jeweils einem Gemeinschaftsraum und offener Küche. Klaus Eberhardt (l.) und Wolfgang Müller sind seit fast 30 Jahren beste Freunde. Foto: Corinna Pehar

Am Probstsee in Stuttgart-Möhringen gibt es seit einem Jahr schicke, neue Wohngemeinschaften. Das Besondere: Hier leben Menschen, die aufgrund einer geistigen Behinderung im Alltag Hilfe brauchen. Zu Besuch an einem besonderen Ort.

Möhringen - Klaus Eberhardt sitzt am Küchentisch, vor ihm dampft eine Tasse Kaffee. Der 73-Jährige grinst seinen Mitbewohner an, als der gerade erzählt, wo sich die beiden kennengelernt haben: „Das war in der Metallwerkstatt“, sagt der 77-jährige Wolfgang Müller und überlegt dann, wie lange das in etwa her ist. „20 Jahre?“, fragt er in die Runde. „Es könnten auch schon 30 gewesen sein“, meint Ricarda Ditschun, die die Wohnanlage der Lebenshilfe Stuttgart am Probstsee in Möhringen leitet. Jedenfalls seien die beiden Männer heute die besten Freunde: „Sie sind unzertrennlich, machen fast alles zusammen.“ Sie wohnen nicht nur Tür an Tür in dem großen, hellen Neubau in einer der vier WGs, die im November 2018 eröffnet wurden.

Hier leben viele Menschen, die geistig behindert sind. Im Vergleich zu einer stationären Einrichtung mit 15-köpfigen Wohngruppen, handelt es sich in Möhringen um Sechser-WGs, außerdem geht es sehr selbstbestimmt zu. Das fange schon bei der Bezeichnung an: Die Menschen, die hier leben, werden als Wohnkunden bezeichnet. „Sie mieten sich hier ein, bekommen einen Mietvertrag, können ihr Zimmer abschließen und zum Beispiel selbst bestimmen, wann sie frühstücken wollen und was es geben soll“, erklärt Fachbereichsleiter Holger Brambach. Die Lebenshilfe verstehe sich hier als reiner Dienstleister: „Wenn die WG am Wochenende fünf Stunden brunchen möchte, ist auch das möglich.“ Viele seien Senioren, und es gehe darum, wie sie ihren Ruhestand verbringen möchten.

Unterstützung bei allem, was notwendig ist

Bei den Freunden Klaus Eberhardt und Wolfgang Müller wird der Tisch um 8 Uhr gedeckt, am liebsten essen sie Brot mit Erdbeermarmelade. Nach dem Frühstück gehen sie oft gemeinsam auf Tour: „Spazieren um den Probstsee“, sagt Wolfgang Müller. Wenn sie keine Lust haben, sitzen sie einfach gemütlich auf dem Sofa und schauen fern, oder sie spielen Mensch ärgere dich nicht.

Da rund 80 Prozent der dort lebenden Menschen auf Hilfe angewiesen sind, gibt es Unterstützung bei allem, was notwendig ist – „egal ob Pflege, Zimmerreinigung oder Freizeitgestaltung“, erklärt Eva Schackmann, die bei der Lebenshilfe Stuttgart für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Zum Beispiel könnten einige der WG-Bewohner nicht richtig sprechen, deshalb hat jeder verschiedene laminierte Kärtchen mit Bildchen drauf: Sei es die Anleitung zum Backen eines Schinkenhörnchens, ein Spaziergang oder ein Ausflug in die Wilhelma. „Bei der Freizeitbesprechung können sie dann ihr Kärtchen in die Box legen“, erklärt Ricarda Ditschun, „viele der Menschen hatten nie eine Wahlmöglichkeit und sind erst einmal überfordert“. Das Bewegende dabei sei, mitzuerleben, wie die Menschen dadurch immer selbstbewusster werden: „Sie merken: Meine Meinung ist wichtig – meine Wahl hat eine Auswirkung.“

Selbstwertgefühl hat sich stark verändert

Durch das Leben in einer betreuten Wohngemeinschaft die sich nach dem noch relativ jungen Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetz richten, habe sich das Selbstwertgefühl der Wohnkunden stark verändert. „Alleine durch das schöne Umfeld und die familiäre Atmosphäre sind die Menschen fröhlicher und ausgeglichener“, findet Holger Brambach und sagt mit einem Lächeln: „Das Beste ist, wenn sie Nein sagen – wir freuen uns richtig, wenn wir Widerworte bekommen.“ Auch wenn dadurch die Arbeit nicht einfacher werde. Er habe zum Beispiel einmal unangekündigt eine interessierte Familie durch eine der Wohngemeinschaften führen wollen und sei „hochkant“ rausgeflogen: „Mir wurde gesagt, ich soll mich das nächste Mal gefälligst vorher ankündigen – da hab’ ich mich gefreut, wie ein Schneekönig.“

Der Neubau am Probstsee, in dem vier Sechser-WGs mit jeweils einem großzügigen Gemeinschaftsraum und offener Küche untergebracht sind, hat eine Auszeichnung für beispielhaftes Bauen in Stuttgart erhalten. Derzeit entsteht in direkter Nachbarschaft ein weiteres Gebäude mit nochmals 24 Plätzen und einem größeren Pflegebad in den Wohnungen, sodass dort auch Menschen mit noch höherem Hilfebedarf wohnen können.