In den vergangenen Jahren zählten die Aktivisten mehr als 400 Morde an Frauen pro Jahr; das sind mehr als doppelt so viele Opfer wie in Deutschland, das eine ähnliche Einwohnerzahl hat. Foto: dpa

Ein Video, in dem ein Mann seine Ex-Frau ersticht, schockt das Land. Das Opfer hatte sich kurz vor der Tat an die Polizei gewandt. Warum der Gewaltakt kein Einzelfall ist und was Frauenverbände fordern.

Istanbul - „Ich will nicht sterben“, waren die letzten Worte von Emine Bulut. Vor den Augen ihrer zehnjährigen Tochter ist die 38-jährige Türkin Emine Bulut in einem Schnellimbiss von ihrem Ex-Mann erstochen worden. „Mama, bitte stirb nicht“, schrie das Kind, doch Emine Bulut verblutete innerhalb weniger Minuten. Die Polizei wusste offenbar von den Morddrohungen des Mannes gegen seine ehemalige Gattin, hatte aber nichts unternommen. 

Der Mord in Kirikkale, eine Autostunde östlich der Hauptstadt Ankara, wäre möglicherweise nur ein weiterer Fall in der traurigen Statistik der Frauengewalt in der Türkei geworden, hätte ein Gast in dem Imbiss die Tat nicht mit seinem Handy gefilmt.

Video taucht im Netz auf

Die Bilder tauchten knapp eine Woche nach dem Mord vom 18. August im Internet auf und schockten das Land. Der mutmaßliche Täter und auch der filmende Tatzeuge wurden inzwischen festgenommen. Auf Antrag der Opferfamilie verhängte ein Gericht eine Nachrichtensperre, um die Weiterverbreitung des Mord-Videos zu verhindern.  

Emine Bulut hatte sich schon vor Jahren von ihrem gewalttätigen Mann Ferdai Varan scheiden lassen. Am Tag des Mordes habe der 43-jährige Varan seine ehemalige Frau und seine Tochter sehen wollen, berichteten Familienangehörige türkischen Medien. Bei dem Treffen in einem Café gab es demnach Streit; Varan drohte, er werde Bulut umbringen. Mutter und Kind gingen sofort zur Polizei, wie der Internet-Fernsehsender Medyascope meldete. Die Beamten taten aber offenbar nichts, um den Mann ausfindig zu machen. Varan fing seine Frau auf ihrem Rückweg von der Polizei ab und zwang sie, mit ihm in das Schnellrestaurant zu gehen. Dort zog er ein Messer, stach sie in den Hals und flüchtete mit einem Taxi. Inzwischen sitzt Varan in Untersuchungshaft. Im Verhör der Staatsanwaltschaft nannte er sein Mordmotiv: Seine Ex-Frau habe ihn beleidigt. 

Diese Veränderungen fordern Frauenverbände

Überall in der Türkei protestierten Demonstranten am Wochenende gegen die Frauengewalt, in Fußballstadien gab es Schweigeminuten. Das Familienministerium will dem anstehenden Prozess gegen Varan als Nebenklägerin beitreten, um die Position der Regierung gegen die Gewalt an Frauen zu dokumentieren. Rund 220 Frauen sind nach Angaben des Verbandes „Wir stoppen die Verbrechen an Frauen“ seit Anfang des Jahres in der Türkei von Verwandten oder ehemaligen Partnern umgebracht worden. In den vergangenen Jahren zählten die Aktivisten mehr als 400 Morde an Frauen pro Jahr; das sind mehr als doppelt so viele Opfer wie in Deutschland, das eine ähnliche Einwohnerzahl hat. 

Frauenverbände beklagen, das Land habe zwar seine Gesetze modernisiert, unternehme aber nichts gegen frauenfeindliche Wertvorstellungen, die in vielen Fällen zu Gewalt führten. Auch nach dem aktuellen Fall wurde deutlich, wie sehr solche Vorstellungen das Denken von Behördenvertretern bestimmen. Der Präsident des staatlichen Religionsamtes, Ali Erbas, schrieb über den Mord auf Twitter: Leben, Ehre und Rechte der Frauen seien im Islam unantastbar und den Männern anvertraut. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. „Ich bin niemandem anvertraut und habe dieselben Rechte wie ein Mann“, schrieb eine von vielen Frauen als Antwort an Erbas.