Holt ihn die Vergangenheit ein? Kardinal George Pell während der Pressekonferenz im Vatikan am 29. Juni 2017. Foto: AP

Donnerschlag im Vatikan: Gegen einen der höchsten Männer im Kirchenstaat wird wegen des Vorwurfs des Kindesmissbrauchs ermittelt. Der australische Kardinal George Pell zieht Konsequenzen. Für ihn wird es nun extrem eng – und auch für Papst Franziskus. Ein Kommentar.

Rom - Ein Kardinal mit pädophilen Neigungen? Ein Päderast sogar? Nichts ist bewiesen, nichts belegt. „In dubio pro reo“ – im Zweifel für den Angeklagten George Kardinal Pell. Die Vorwürfe gegen den Papst-Vertrauten und Chef des vatikanischen Finanzsekretariats wiegen schwer. So schwer, dass Pell, der Mitglied des Kardinalsrats – des höchsten Beratergremiums des Papstes – ist, sein Amt ruhen lässt und nach Australien reist, um die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu entkräften.

Ermittlungen gegen die Nummer Drei des Vatikans

Es ist das erste Mal, dass gegen einen der ranghöchsten Kardinäle im Vatikan wegen des Vorwurfs des Kindesmissbrauchs ermittelt wird. George Pell, die inoffizielle Nummer Drei in der Kirchenhierarchie, ist von den Ermittlungen gegen ihn genauso betroffen wie Papst Franziskus.

2013 ist der Argentinier angetreten, um die katholische Kirche zu erneuern. Ein Kernpunkt seiner Reformagenda ist es, das Null-Toleranz-Programm seines Vorgängers Benedikt XVI. gegen kirchliche Missbrauchstäter fortzuführen und zu verschärfen. Vor der Papstwahl im März 2013 hatte die US-Organisation Snap (Netzwerk der Überlebenden von Missbrauch durch Priester) eine Liste veröffentlicht, mit der sie zwölf Teilnehmern des Konklaves schwere Vorwürfe machten. Auch der Name von George Pell stand auf dieser Liste.

Missbrauch in der Kirchenspitze

Ende 2014 berief Franziskus die päpstliche Kinderschutzkommission ins Leben, um die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen und anderen schwerwiegenden Delikten in der Kirche zu erleichtern. Im Oktober 2016 entsandte er Kardinal Raymond Burke als Vorsitzenden eines vierköpfigen Tribunals der Glaubenskongregation ins US-Pazifikterritorium Guam, um sich dort um die „äußerst ernsten Vorwürfe“ gegen Erzbischof von Agaña, Anthony Apuron, zu kümmern. Apuron soll vor Jahrzehnten Ministranten sexuell belästigt haben.

Erinnerungen an Groër-Affäre werden wach

Und nun der Australier George Pell. Ein Déjà-vu. Erinnerungen an einen der spektakulärsten Kirchen-Skandale der letzten Jahrzehnte werden wach. Im September 1995 trat der damalige Kardinal von Wien Hans Hermann Groër zurück, nachdem zuvor schwere Vorwürfe wegen sexuellen Missbrauchs gegen den damals 75-Jährigen erhoben worden waren. Der als „tieffrommer Priester“ geltende Groër soll als Leiter des Knabenseminars Hollabrunn mehrere Schüler sexuell belästigt und missbraucht haben.

Die österreichischen Bischöfe erklärten daraufhin in einer offiziellen Stellungnahme, dass sie zur „moralischen Gewissheit“ gelangt seien, dass die Vorwürfe gegen Groër „im Wesentlichen zutreffen“. Groër 1998 in einer Erklärung „Gott und die Menschen“ um Vergebung, „wenn ich Schuld auf mich geladen habe“. 2003 verstarb Groër in St. Pölten.

Pell: „Die Anschuldigungen sind falsch“

Pell beteuert auf einer Pressekonferenz im Vatikan seine Unschuld. „Die Anschuldigungen sind falsch. Die ganze Vorstellung von sexuellem Missbrauch ist für mich abscheulich“, versichert der 76-Jährige. Es geht – wie in ähnlichen Fällen, in denen hohe kirchliche Würdenträger verwickelt waren – um angebliche Taten, die Jahrzehnte zurückliegen.

Die australische Polizei im Bundesstaat Victoria teilt am Donnerstag (29. Juni) mit, dass ein Ermittlungsverfahren gegen Pell wegen Missbrauchsverdachts eingeleitet worden sei. Der frühere Erzbischof von Melbourne und Sydney muss am 18. Juli zu einer Gerichtsanhörung in Melbourne erscheinen.

Bis zu seiner Versetzung nach Rom im Jahr 2014 war Pell Oberhirte der Erzdiözese. Franziskus ernannte ihn im Februar 2014 zum „Mr. Clean“ – als Leiter der neu geschaffenen Aufsichtsbehörde für die wirtschaftlichen Angelegenheiten des Vatikans.

Kirche und Missbrauch

Vertuschen, schweigen, wegsehen

Die Vertuschungen und Verharmlosungen, die bischöfliche Ordinariate in aller Welt über Jahrzehnte praktizierten, haben eine Doppelmoral und Heuchelei offenbart, die von den meisten Christen wie Nichtchristen für unmöglich gehalten wurde. Schweigen und Wegsehen waren der kirchlichen Hierarchie – Bischöfen, Kardinälen und Päpsten – wichtiger als der Dienst an der Wahrheit, welche die Kirche sonst geradezu exklusiv für sich beansprucht.

Besonders bedrückend ist, dass es sich nicht um einzelne pädophile Gottesmänner – einfache Priester wie auch Bischöfe und Kardinäle – gehandelt hat, die sich versündigt haben, sondern dass Lüge und Vertuschung im System begründet lagen.

Weil die Kirche als Institution „qua definitionem“ immer heilig und unversehrt ist und auch klerikale Täter Teil dieses unfehlbaren Systems sind, wurden die Opfer von offizieller Seite gebrandmarkt, ignoriert, ihre Leiden totgeschwiegen. Der Schutz der Institution war wichtiger als die Hilfe für die Opfer.

Noch ist nichts bewiesen

Wie gesagt: Noch ist nichts bewiesen. „Keine der gegen Kardinal Pell erhobenen Anschuldigungen ist bislang von einem Gericht überprüft worden“, betont Victorias Vize-Polizeichef Shane Patton. Pell habe „das Recht auf ein faires Verfahren“. Die Geschehnisse lägen schon weit zurück, heißt es.

In der Vergangenheit hatte es bereits mehrfach Beschwerden gegeben über angebliche Fälle von Kindesmissbrauch während Pells Zeit als Priester in seiner Geburtsstadt Ballarat (1976-1980, einer 86 000-Einwohner-Stadt, 120 Kilometer west-nordwestlich von Melbourne) und als Erzbischof in Melbourne (1996-2001).

Was Kardinal Pell zur Last gelegt wird, wiegt schwer

Die Vorwürfe sind deshalb besonders heikel, weil Pell eingeräumt hat, dass Australiens katholische Kirche über Jahre hinweg den Missbrauch von Kindern heruntergespielt habe. Auch er selbst wurde dafür kritisiert, derartige Fälle unter den Teppich gekehrt zu haben, und musste sich vor Untersuchungskommissionen in Australien den Vorwürfen stellen.

Pell wird zur Last gelegt, Missbrauchsfälle vertuscht und persönlich mehrere Jungen sexuell belästigt zu haben. 2008 warfen ihm mehrere Opfer sexuellen Missbrauchs vor, ihre Fälle vertuscht zu haben. Im Juli 2017 erhoben zwei Männer direkte Missbrauchsvorwürfe gegen den Kardinal, der sie in den 1970er Jahren in einem Schwimmbad unsittlich angefasst haben soll.

Ein dritter Mann berichtete, Pell habe sich in den 1980er Jahren vor Jungen in einem Umkleideraum am Strand entblößt. Pell soll zudem dem Neffen und Opfer eines verurteilten pädophilen Priesters ein Schweigegeld angeboten zu haben, damit dieser seine gegen den Täter vorgebrachten Anschuldigungen zurücknähme.

Ist der Kardinal „unhaltbar für den Vatikan“?

Für den Heiligen Stuhl ist das Ermittlungsverfahren äußerst prekär. Seit dem Rücktritt der beiden Mitglieder der päpstlichen Kinderschutzkommission, der Irin Marie Collins im März 2017 und des Briten Peter Saunders im Februar 2016, gehört kein Opfer mehr dem Gremium an. Beide hatten aus Frust darüber, dass es mit der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen nicht vorwärts gehe, die Kommission verlassen.

Was besonders schwer wiegt: Im Mai 2015 hatte Saunders erklärt, dass George Pell aufgrund der Missbrauchsvorwürfe „unhaltbar für den Vatikan“ sei. Er bezeichnete den Kardinal als „kalt, hartherzig und fast soziopathisch“.

Saunders trat zurück, Pell blieb auf seinem Posten. Jetzt hat ihn seine Vergangenheit doch noch eingeholt.