Der 46-jährige Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas auf einem Foto, das ihn im Gefängnis zeigen soll. Foto: AFP

Seit Herbst 2016 saß der Kurdenpolitiker Selahattin Demirtas in der Türkei in Untersuchungshaft. Nun hat ein Gericht seine Freilassung angeordnet. Das könnte unangenehme Folgen für Staatspräsident Erdogan haben, der bereits stark unter Druck steht.

Istanbul - Der charismatische Kurdenpolitiker Selahattin Demirtassoll nach fast drei Jahren im Gefängnis bald freigelassen werden. Ein türkisches Gericht ordnete jetzt die Aufhebung seiner Untersuchungshaft an; die Türkei fügt sich damit einer Anordnung des Europäischen Menschenrechtsgerichtes in Straßburg. Eine Rückkehr des begabten Politikers könnte die Kräfteverhältnisse in der Türkei entscheidend verändern, denn die Opposition bekäme damit neben dem Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu einen zweiten Hoffnungsträger – während Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wegen Unzufriedenheit in seiner AKP und der anhaltenden Wirtschaftskrise immer mehr in die Defensive gerät.

Demirtas war im Herbst 2016 wegen des Vorwurfs der Terrorpropaganda in Untersuchungshaft genommen worden. Erdogan hatte ihn öffentlich als „Terroristen“ und Erfüllungsgehilfen der Terrorgruppe PKK bezeichnet. Eine Forderung der Europarichter in Straßburg nach Freilassung des Kurdenpolitikers wiesen Erdogan und die türkische Justiz im vergangenen Jahr zurück. Deshalb drohte der Türkei, die als Mitglied des Europarats eigentlich an Urteile aus Straßburg gebunden ist, bald eine neue Ohrfeige des Europagerichts, das in wenigen Wochen erneut zum Fall Demirtas Stellung nehmen wollte. Aus Kreisen des Europarats verlautete, die Türkei riskiere den Ausschluss aus der Organisation, wenn sie die Straßburger Anweisungen weiter ignoriere.

Selbst aus der Haft heraus gelangte er bei der Wahl auf Platz drei

Gegen Demirtas laufen mehrere Prozesse. Im Hauptverfahren in Ankara, in dem die Anklage mehr als 140 Jahre Haft fordert, ordnete das Gericht jetzt an, Demirtas‘ U-Haft zu beenden. Damit will die Türkei den Streit mit dem Europarat entschärfen.

Die Staatsanwaltschaft legte am Dienstag zwar Einspruch ein. Laut türkischen Medienberichten kann Demirtas dennoch bald mit einer Freilassung rechnen. Seine lange Untersuchungshaft dürfte demnach auf eine bereits rechtskräftige Verurteilung zu mehr als vier Jahren Haft in einem anderen Verfahren angerechnet werden. Der Hauptprozess in Ankara läuft aber weiter.

Für die türkische Opposition wäre eine Freilassung von Demirtas ein weiterer Erfolg nach den Siegen bei den Kommunalwahlen im März und im Juni. Als Vorsitzender hatte Demirtas die Kurdenpartei HDP für nicht-kurdische, linksliberale Wähler in den türkischen Metropolen geöffnet. Seine persönliche Beliebtheit bei den Wählern verhalf ihm bei der Präsidentenwahl im vergangenen Jahr zu Platz drei, obwohl er aus der Zelle heraus um Stimmen werben musste. Heute ist die HDP die drittstärkste Kraft im Parlament.

Drohen bald Neuwahlen in der Türkei?

In Istanbul hatten HDP-Wähler im Juni den Oppositionskandidaten Imamoglu von der Säkularistenpartei CHP unterstützt und so die AKP aus dem Rathaus geworfen. Sollten Demirtas und Imamoglu diese Zusammenarbeit festigen, könnten HDP und CHP der regierenden AKP bei den nächsten Wahlen gefährlich werden. Mit ihren 46 und 49 Jahren fordern Demirtas und Imamoglu den 65-jährigen Erdogan heraus.

Auch die Wirtschaftskrise sowie Korruption und Nepotismus machen der AKP zu schaffen. Mehrere frühere Weggefährten Erdogans wollen eigene Parteien gründen. Einen der Abweichler, den früheren Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden Ahmet Davutoglu, will Erdogan deshalb jetzt aus der AKP ausschließen lassen. Der ehemalige Wirtschaftsminister Ali Babacan, der ebenfalls an der Gründung einer neuen Partei arbeitet, hatte kürzlich von sich aus die AKP verlassen.

Zwar stehen die nächsten regulären Wahlen erst in vier Jahren an. Erdogan könnte aber versucht sein, vorgezogene Neuwahlen anzusetzen, um Gegner wie Davutoglu und Babacan daran zu hindern, in aller Ruhe ihre neuen Parteien aufzubauen. Demirtas‘ Nachfolger als HDP-Chef, Sezai Temelli, rief seine Partei schon auf, sich auf baldige Wahlen vorzubereiten.