So soll es einmal aussehen: „Die Insel“ wird ein grünes Refugium mitten auf dem Laien. Foto: Stadt Ditzingen

„Unter Beobachtung“ heißt die Kunstaktion der Kulturregion Stuttgart in diesem Herbst. Auch im Landkreis Ludwigsburg wird die Frage gestellt, wo das Private aufhört und das Öffentliche des Menschen beginnt.

Ditzingen/Gerlingen - Drei Schritte an der schmalen Kante, sieben bis acht an der langen. Die Wände des großen Kastens sind einigermaßen sauber – und durchsichtig. Bänke stehen im Inneren. Und ein gelber Postkasten, ein grauer ovaler Papierkorb. Darauf abgebildet das Wappen der Stadt. Vier, fünf Leute sitzen und stehen in dem Glashaus, unterhalten sich, schauen auf den Fahrplan. Ein normales Wartehäuschen, in Gerlingen (Kreis Ludwigsburg) am Rathausplatz. Drei Wochen lang, vom 28. September bis 18. Oktober, wird sich dort eine Frau aufhalten – länger als ein paar Minuten bis zum nächsten Bus. Nämlich tagelang. Das Wartehäuschen wird zum Wohnzimmer – öffentlich und einsehbar. Die Frau nennt sich Barbara Ungepflegt. Sie ist Aktionskünstlerin aus Wien und hat Erfahrung mit öffentlicher Zurschaustellung. Ob die Gerlinger das goutieren?

Das Wohnzimmer auf dem Rathausplatz ist ebenso ein Teil einer regionsweiten Kunstreihe wie ein kleiner Hügel auf einem kreisrunden Podest mitten in Ditzingen. Das hat sieben Meter Durchmesser und schwebt 3,50 Meter über dem Boden. Auch dieses Objekt der Kunst ist schon zu sehen: Vor wenigen Tagen wurde es auf dem Laien aufgebaut. Nun muss der Rasen noch anwachsen. Wenn das geschehen ist, können Menschen hinaufklettern: um sich umzugucken – aber auch, um sich angucken zu lassen. Das ist Absicht.

Angaffen oder Kommunikation?

Das Kunstprojekt der Kulturregion Stuttgart findet alle zwei Jahre statt. „Unter Beobachtung“ heißt es in diesem Jahr, und die Städte Gerlingen und Ditzingen nehmen wieder daran teil. In den Rathäusern ist man gespannt, wie die Objekte von den Leuten angenommen werden. Wird Frau Ungepflegt in Gerlingen mehr oder weniger neugierig und offensichtlich angegafft? Oder wird sie rasch zum selbstverständlichen Teil der Innenstadt? Gehen die Leute darauf ein, dass man mit ihr reden kann? Wird in Ditzingen „Die Insel“, ein Projekt des in Berlin lebenden Künstlers Christian Hasucha, zur Aussichtsplattform oder zum Podium von Selbstdarstellern, die eine öffentliche Bühne suchen? Geht das friedlich ab oder mit Krawall? Diese Fragen tauchen auf.

Die Kunstprojekte der Region seien „immer eine Überraschung“, sagt Thomas Wolf, der Leiter des Ditzinger Kulturamtes. Das sei beim Lichtkunstprojekt 2016 ebenso gewesen wie2018 mit dem Friedhofsprojekt. „Die Insel“, so Wolf, „ist ein bisschen wie ein Ufo, das auf dem Laien gelandet ist.“ Es gehe darum, den Raum und Platz anders wahrzunehmen. Wenn dort oben jemand nur seine Ruhe haben wolle, sei das ebenso akzeptabel wie wenn jemand ein Konzert geben wolle. „Man kann aber auch nur stehen und schauen. Oder mit ein paar Leuten Geburtstag feiern.“ Auf der Plattform sind maximal sechs Menschen von 14 Jahren an zugelassen. „Oder man kann dort oben mit anderen auf gute Zeiten anstoßen.“ Wozu auch immer – die Nutzer müssen sich anmelden: vom 8. September an im Reisebüro „Durchblick“ in der Marktstraße 7 oder unter E-Mail an info@tibs4u.de.

Teilnahme zunächst fraglich

In Gerlingen war nicht von vornherein ausgemacht, dass sich die Stadt an dem Projekt 2020 beteiligt. Im Oktober 2019 hatte der Kulturausschuss des Gemeinderats die Ansage der Verwaltung toleriert, man könne sich 2020 nicht an der Kunstaktion der Region beteiligen – die personelle Kapazität reiche nicht aus. Danach gab es aber nochmals Gespräche zwischen dem Hauptamt, dem Kurator Gottfried Hattinger, der Künstlerin und dem Leiter des Bauhofes. Danach, so eine Rathaus-Sprecherin, „kam man jedoch zu dem Entschluss, dass die Stadtverwaltung das Projekt gemeinsam stemmen kann“.

In der direkten Nachbarschaft Gerlingens stehen in Leonberg auch die Fragen „Was ist noch privat? Was ist schon öffentlich?“ im Mittelpunkt. Im Stadtpark entsteht nach Plänen von Bernd Oppl ein Zimmer – mit zwei Wänden. Jeder kann hineingehen. Die Besucher werden in Zeitraffer gefilmt – und, wenn sie lange genug bleiben, auf dem so entstehenden Film sichtbar sein. „I’m after me“ heißt die Installation. Sie „macht das Gefühl, beobachtet zu werden, spürbar“, sagt Tom Kleinfeld aus dem Rathaus.

Stadtrundgang in Ludwigsburg

In Ludwigsburg wird der Festivalbeitrag der Künstlergruppe Rimini Protokoll nicht an einem Ort stehen. „Remote Ludwigsburg“ führt Menschen zu vielen Orten. Die vorab nicht verraten werden. „Unsere Stadt hat ausgedehnte öffentliche Plätze, beliebte und versteckte, überraschende Orte“, sagt Wiebke Richert, die Leiterin des Fachbereichs Kunst und Kultur im Rathaus. Ludwigsburg habe sich als Gründungsmitglied der Kulturregion an fast jeder der großen Kunstaktionen beteiligt. Das Thema „Öffentlichkeit versus Privatheit“ sei „für jede Stadt relevant“.

Über den Marktplatz unbeobachtet zu gehen, wird in Kornwestheim vom 30. September bis zum 18. Oktober nicht möglich sein. Der belgische Medienkünstler Dries Depoorter baut dort eine Überwachungskamera auf. Und die zeichnet nicht nur auf, was in ihrer Umgebung passiert. Die künstliche Intelligenz spricht über einen Lautsprecher zudem die ins Visier genommene Person an. Jeder Satz der sprechenden Installation beginnt mit „Ich sehe . . .“  Wie reagieren die Passanten? Antworten sie? Schauen sie verärgert weg? Sind sie verwundert über das, was die künstliche Intelligenz leisten kann? Dries Depoorter lädt das Publikum ein, spielerisch mit seiner Installation zu interagieren und sich Gedanken darüber zu machen, wie sehr die Technologie schon in ihr Leben eingreift.

Literaturprojekt in Marbach

In Marbach gibt es natürlich ein Literaturprojekt, sagt Melanie Salzer vom städtischen Kulturamt. Die österreichische Künstlerin Andrea Maurer stiehlt Wörter zurück, zerlegt wüste Texte und schafft daraus Poesie. Die sprachexperimentelle Performance soll vor dem Literaturmuseum der Moderne zu einer raumgreifenden Installation heranwachsen. Vom 1. bis 10. Oktober verwandelt die Künstlerin Kontoauszüge in Zahlenbilder, Mahnungen in Liebesbriefe oder Urkunden in Buchstabensonaten.

In Remseck sollte zur Eröffnung der neuen Stadthalle am 26. September die „Remseck Suite – Komposition für Blasmusik und Chor“ aufgeführt werden. Wegen Corona muss dies auf den 12. Juni 2021 verschoben werden, zur Einweihung des neues Marktplatzes. „Während des Festival-Zeitraumes kann kein Projekt stattfinden“, erklärt eine Sprecherin des Rathauses mit Bedauern.

Mitarbeit: Werner Waldner, Sandra Brock

Zeitraum:
Die Kunstaktion der Kulturregion Stuttgart „Unter Beobachtung – Kunst des Rückzugs“ findet statt vom 25. September bis zum 18. Oktober 2020 in 21 Städten der Region. Sechs davon sind im Landkreis Ludwigsburg.

Ditzingen:
„Die Insel“ steht auf dem Laien. Das kreisrunde Podest, 3,50 Meter über dem Boden, kann jeder nach Anmeldung besteigen.

Gerlingen:
Das gläserne Buswartehäuschen am Rathausplatz wird für drei Wochen zum Wohnzimmer. Die Künstlerin bittet zum Talk.

Ludwigsburg:
Die Teilnehmer der Kunstaktion begeben sich als Gruppe auf einen besonderen Rundgang durch die Innenstadt. Dieser findet an etwa 20 Terminen statt.

Kornwestheim:
Auf dem Marktplatz werden die Passanten nicht nur mit einer Kamera beobachtet – sondern auch über Lautsprecher angesprochen.

Marbach:
Vor dem Literaturmuseum der Moderne werden Schriftstücke und Gegenstände von Einwohnern eingesammelt. Die Performancekünstlerin gibt den Dingen dann eine neue Bedeutung.

Remseck
: Hier gilt eine zeitliche Ausnahme: Die Aktion läuft erst im nächsten Jahr.

Leonberg:
Im Stadtpark entsteht ein Zimmer mit zwei Wänden. Die Besucher werden in Zeitraffer gefilmt. Eine besondere Beobachtung.