Sogenannte Bodycams sollen die Beamten besser schützen, aber auch die Bürger. Foto: dpa

Der Stuttgarter Polizeipräsident Franz Lutz greift zu kurz, wenn er darauf verweist, dass es sich ja vor allem um eine Steigerung der einfachen Körperverletzungen handle und dass sich wohl auch das Anzeigeverhalten über die Jahre verändert habe, sagt Autor Wolf-Dieter Obst.

Stuttgart - Das klingt doch recht entspannt, was die Polizei in diesem Jahr in ihrer Kriminalitätsbilanz präsentiert: Die Zahl der Straftaten ist deutlich zurückgegangen, auf knapp 59 000. Es gibt weniger Wohnungseinbrüche und Taschendiebstähle, und die Aufklärungsquote der Polizei ist mit 63 Prozent die beste im Land. Alles bestens also in der Stadt? Oder köchelt da nicht etwas im Kessel?

Wenn uns etwas beunruhigen sollte, dann ist es die offenbar zunehmende Aggressivität in unserer Gesellschaft. Dass sich derzeit nicht nur der Ton verschärft, zeigt sich in einer nüchternen Zahl: 7334. Dies ist die Zahl der Körperverletzungen, die im vergangenen Jahr von der Polizei registriert wurden. Wer sich die Mühe macht, die Kriminalitätsbilanzen der letzten 30 Jahre durchzusehen, wird feststellen, dass es eine so hohe Zahl von Gewaltdelikten noch nie gegeben hat. Selbst 1992, dem traurigen Rekordjahr mit über 70 000 Straftaten, gab es nicht mal 3500 Delikte – weniger als die Hälfte.

Respekt gegenüber Poliziebeamten sinkt

Wie symbolisch ist da der Zwischenfall im November in Feuerbach, als sich ein Autofahrer und ein Taxifahrer auf einer Kreuzung stritten, sich immer mehr Beteiligte einmischten und schließlich neun Streifenwagenbesatzungen anrücken mussten, um 40 Streithähne zu trennen. Und wie bedenklich ist die Tatsache, dass auch der Respekt gegenüber Polizeibeamten sinkt und Übergriffe deutlich steigen. Und umgekehrt wie erschütternd, wenn in einem Video in sozialen Netzwerken zu sehen ist, wie ein Polizist mit seinem Schlagstock wie wild auf einen widerborstigen Bürger einschlägt.

7334 Gewaltdelikte. Kein Grund zur Beunruhigung? Der Stuttgarter Polizeipräsident Franz Lutz greift zu kurz, wenn er darauf verweist, dass es sich ja vor allem um eine Steigerung der einfachen Körperverletzungen handle und dass sich wohl auch das Anzeigeverhalten über die Jahre verändert habe. Natürlich gibt es auch den Grund, dass in der Innenstadt derzeit viele Polizeibeamte verstärkt auf Streife sind und dadurch mehr Opfer unmittelbar in Tatortnähe Anzeige erstatten – was sie tags darauf wohl nicht mehr getan hätten.

Klare Worte des Reutlinger Polizeipräsidenten

Doch offenbar nimmt die Aggressivität zu – auch in den 130 Flüchtlingsheimen, wo in beengten Verhältnissen immer öfter Spannungen auftreten. Von Jahr zu Jahr verdoppeln sich die Körperverletzungsdelikte. Wer im Straßenverkehr unterwegs ist, spürt die zunehmende Aggression ebenso – nicht nur bei der Massenschlägerei in Feuerbach. Der Reutlinger Polizeipräsident Alexander Pick spricht das Problem offener aus: All dies sei ein „besorgniserregendes Indiz für die zunehmenden Verrohungstendenzen in Teilen unserer Gesellschaft“, sagt er. Ein Streifzug durchs Internet genüge, um zu erkennen: „Hier läuft etwas gewaltig schief.“

Die Polizei will nun Kameras auf der Schulter tragen, um Rowdys einzuschüchtern und Aggressionen einzudämmen. Eigentlich ein Armutszeugnis. Doch dass man in dieser Stadt offensichtlich wieder mehr Respekt und Toleranz zeigen sollte, ist keine polizeiliche Aufgabe.