Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow – hier beim Auftritt im Stuttgarter Theaterhaus im April dieses Jahres Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Aber hier leben, nein Danke! Die Band Tocotronic ist in der Manufaktur in Schorndorf aufgetreten und hat sich wuchtig an den Teenager-Ennui vergangener Tage erinnert.

Schorndorf - Am Rand eines Industriegebiets in Schorndorf. Der Weg geht entlang von Bahngleisen, vorbei am Kleintierzüchterverein mit verloren krähendem Hahn. Eine Biegung weiter das unscheinbare Gemeindehaus der freien Christen. Wehmut liegt in der Luft, das Leben tobt woanders. Es gibt keinen besseren Ort, um einen Song wie „Drüben auf dem Hügel“ der Hamburger Band Tocotronic zu hören. 1995 hatten der Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow, der Bassist Jan Müller und der Drummer Arne Zank das Stück auf ihrem Album „Digital ist besser“ veröffentlicht. Und das geht so: „Drüben auf dem Hügel möcht ich warten/ im nassen Gras in unserem Schrebergarten/ Ich warte dort auf dich weil ich dich mag/ an unserem letzten Sommerferientag.“ Das war der Soundtrack zur Jugend in den Neunzigern, mit Kinderzimmertristesse, gezimmert aus Pressspanmöbeln in Buche-Natur-Optik, öden Nachmittagen mit Schulaufgaben und ersten Ausbruchsversuchen in Dorfdiscos mit harter, schneller Rockmusik.

Reise zurück in die Vergangenheit

Protest braucht bis heute keine große Geste, nur Menschen und einen Ort, an dem er stattfinden kann. Die Manufaktur Schorndorf, in der schon Legenden wie Black Sabbath, Rudi Dutschke und John Cale auf der Bühne standen, bietet genau das. Zum fünfzigjährigen Bestehen seiner Institution hat der Kulturverein am Samstag Tocotronic geladen, eine Band, die inzwischen selbst ein Vierteljahrhundert auf dem Buckel hat, die längst herausgewachsen ist aus dem Dorfdissen-Format und dem Albtraum deutscher Jugendzimmer.

Auf ihrem jüngsten Album „Die Unendlichkeit“ begibt sich die 2004 um den amerikanischen Gitarristen Rick McPhail aufgestockte Truppe auf eine Reise zurück in die eigene, zugleich prototypische Vergangenheit. Lieder wie „1993“ reflektieren den juvenilen Sturm und Drang von damals, der notgedrungen im Lauf der Zeit bei den meisten Menschen auf der Strecke bleibt.

Verklärung schwerster Frustration

Der Konzertopener mit dem Titelstück der aktuellen Platte stimmt das Publikum dann auch erst einmal nachdenklich. Vor neonfarben glimmenden Sternen auf schwarzem Grund und mit diversen Kuscheltieren im Rücken raunt der inzwischen vollergraute, hohlwangige von Lowtzow „Dann gehst du mir voran/ In die Unendlichkeit“, die Gitarre mahnt, doch das Schlagzeug treibt unerbittlich vorwärts, das klingt schön schaurig. In „Electric Guitar“ beschwören die Vier dann wuchtig den Teenager-Ennui vergangener Tage, mit Zeilen wie „Manic Depression im Elternhaus“, ein Verweis auf die permanent gedrückte Gemütslage Heranwachsender, aber auch auf Jimi Hendrix’ Song von 1967, jene romantische Verklärung schwerster Frustration, mit der sich junge Fans gefährlich tiefgreifend identifizieren konnten.

Zwischen Wut und Resignation

Endlich die Erlösung mit der donnernden Slogan-Nummer „Let there be Rock“, gereckte Fäuste, ein sich spontan formierender Pogo-Zirkel vor der Bühne, jetzt geht der Punk ab. „Und alles was wir hassen, seit dem ersten Tag/ Wird uns niemals verlassen, weil man es eigentlich ja mag“ – in solchen Versen, die konkret ein zwischen Wut und Resignation zerriebenes Lebensgefühl beschreiben, liegt bis heute der Furor und die Stärke von Tocotronic. Es gibt keine Überraschungen an diesem Abend, im April hat die Band dasselbe Set schon im Stuttgarter Theaterhaus gespielt. Trotzdem treffen der hervorragend abgemischte Sound, McPhails fulminante Tremolos, die krachend psychedelischen Flächen und die Verse aus „Drüben auf dem Hügel“, „Kapitulation“ und „Wie wir leben wollen“ bis ins Mark.

Gegen die Vergrauung des Gefühlslebens

Man kann die eigene Vergangenheit in den Stücken wieder entdecken, die Lust an der Rebellion und am Widerstand gegen die im Alter zunehmende Vergrauung des Gefühlslebens. Gerammelt voll ist der Saal an diesem Abend zwar nicht, es gibt genug Platz zum fröhlichen Rempeln und kollektiven Haareschütteln. Der Stimmung tut das keinen Abbruch, im Gegenteil. Vielleicht auch, weil die inzwischen selbst mindestens vierzigjährigen Fans der ersten Stunde teilweise mit ihrem Nachwuchs im Grundschulalter gekommen sind. Teenage Riot im Mehrgenerationenhaus, das ist die Zukunft. Auf geht’s!