Lichtprobe zum Tag der Deutschen Einheit am Reichstagsgebäude Foto: dpa

Ein Vierteljahrhundert nach dem Einigungsvertrag stellt sich für Deutschland die zentrale Frage neu: Was ist, was sichert die Einheit? Immerhin macht der Nationalfeiertag fühlbar, wie sich das Land gerade verändert, meint unser Kommentator Christoph Reisinger.

Stuttgart - Deutschland, wie hast du dich verändert! Am Tag der Einheit 2015 kann es nicht mehr darum gehen, ob die seit 1990 entstandene Infrastruktur der Ost-Bundesländer Luxus ist. Oder ob im Westen vergleichsweise zu viel verdient wird. Solche Themen sind zwar nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Aber ein Vierteljahrhundert nach dem Einigungsvertrag stellt sich für Deutschland die zentrale Frage neu: Was ist, was sichert die Einheit?

Deren drei Säulen bleiben die alten: ein Mindestmaß an gemeinsamen Werten und Zusammengehörigkeitsgefühl unter denen, die in Deutschland leben, ein gemeinsames Recht und annähernd einheitliche Lebensverhältnisse in allen Landesteilen. Speziell die erste und die dritte dieser drei Säulen sind zuletzt unter erheblichen Druck geraten. Er wird bleiben.

Die Verunsicherung nimmt zu – das provoziert Reaktionen

Eine im Grund nicht mehr steuerbare Zuwanderung bringt einerseits eine Verjüngung der Gesellschaft, neue Talente, neue Ideen ins Land. Aber ebenso schafft sie Zumutungen, Konkurrenzdruck, Überforderung. Ganz klar zulasten der Einheit, wenn es nicht gelingt, Hunderttausenden Menschen in kurzer Zeit einen Platz in dieser Gesellschaft zu verschaffen, ohne diese zu beschädigen.

Hinzu kommt die rasante Veränderung des täglichen Lebens durch das Internet und die Digitalisierung an sich. Sie schafft Komfort und Geschäftsmodelle. Aber sie engt die im Sinne persönlicher Freiheit existenziell wichtige Privatsphäre immer mehr ein. Sie schafft Riesen-Datenhalden, deren Verwendung erschreckend unklar bleibt. Zudem spaltet diese Veränderung die Gesellschaft in Deutsche, die in der digitalen Welt zu Hause sind – alle Chancen und Risiken inklusive –, und solche, die es nicht sind.

Gleichzeitig machen Netz und Digitalisierung die Welt zum Dorf. Das Positive daran: Der Horizont erweitert sich. Das Negative: Die Verunsicherung nimmt zu, die Angst vor Identitätsverlust, vor nicht beherrschbarer Veränderung. Das provoziert Reaktionen. Zu den freundlichen gehört die Besinnung auf Heimat und Regionaltypisches, der Spaß an Dirndl und Volksfest. Zu den problematischen zählt die Überzeugung mancher Deutscher, die Regierung wolle gerade das Staatsvolk austauschen oder einer islamistischen Weltverschwörung zuarbeiten. Ausgemachter Blödsinn, sicher. Aber für das Klima im Land und seine Einheit zählt, dass es solche Ängste gibt.

Auch das haben wir geschafft

Einher geht diese Entwicklung damit, dass das Modell Nationalstaat generell unter Druck geraten ist. Zumindest so wie es in Europa mit großen Brüchen seit dem 13. Jahrhundert entstanden und in seiner aktuellen Ausprägung vor allem ein Modell des 19. Jahrhunderts ist. In Teilen Afrikas und Asiens in Auflösung, stößt es in Europa an neue Grenzen. Weil viele Fragen wie Sicherheit oder Klimaschutz auf nationaler Ebene nicht mehr zu lösen sind. Und weil regionale Bezugsgrößen neue Attraktivität entwickeln. In der bosnischen Serbenrepublik wie in Katalonien, Schottland oder Flandern.

Wollen die Deutschen 2050 noch in einer freien, rechtsstaatlichen Bundesrepublik ihre Einheit feiern, müssen sie – nicht nur ihre Politiker – Antworten auf diese Herausforderungen finden. Die sind gewaltig. Aber lösbar. Jene vor 25 Jahren waren auch nicht viel geringer.

Daher sagt Kanzlerin Angela Merkel mit einer gewissen Berechtigung über das Kommende: Wir schaffen das. Schließlich lässt sich in der Rückschau auf 1990 sagen: Auch das haben wir geschafft. Nicht alles perfekt, aber immerhin.