Bis März steht die Skulptur des Künstlers Peter Lenk vor dem Stadtpalais in Stuttgart. Foto: dpa/Gollnow

Die satirische Skulptur zu Stuttgart 21 macht in freudloser Corona-Zeit vielen Menschen Spaß. Das Kunstwerk von Peter Lenk ist zur neuen Attraktion geworden und wird eifrig fotografiert. Unser Kolumnist hat sich am Stadtpalais umgeschaut.

Stuttgart - „Warum sind die alle nackt?“, fragt eine ältere Dame, die vor dem Stadtpalais stehen bleibt und ganz genau nach oben schaut.

150 überwiegend nackte Figuren befinden sich auf der neun Meter hohen Skulptur von Peter Lenk, des 73-jährigen Künstlers vom Bodensee – abgebildet sind Menschen, die mit Stuttgart 21 beschäftigt sind oder waren.

„Ist das Engelchen da oben der Geißler?“

Die neue Attraktion, die seit wenigen Tagen heraussticht im Stadtbild und für viele Betrachter zum Suchspiel wird („Warum lacht der Schuster so fett? Ist das Engelchen da oben der Geißler?“), trägt den Titel „S 21. Das Denkmal – Chroniken einer grotesken Entgleisung“. Eine Frau, die Flugblätter verteilt, auf denen zu Spenden für den Betonsockel des Kunstwerks aufgerufen wird (nur die Materialien wie Edelstahl, Verzinkung, Silikon sind bisher finanziert, es fehlen noch etwa 12 500 Euro), kann der älteren Dame erklären, warum die Herr- und Frauschaften keine Kleider tragen (Ausnahme ist die Kanzlerin: sie ist bekleidet).

„Herzstück der Skulptur ist eine Figur, also der Herr Kretschmann, der an Laokoon aus der griechischen Mythologie angelehnt ist“, sagt sie, „und das alte Vorbild war schließlich ja auch nackt.“

„Der alte König wirkt wie ein Kleiderständer“

Sogleich zeigt die Aktivistin auf König Wilhelm II., der wenige Meter weiter mit seinen Spitzen steht, fast an einen Zaun ins Abseits zurückgedrängt. Kretschmann stiehlt dem letzten Monarchen von Württemberg hier nun die Schau. „Der alte König wirkt wie ein Kleiderständer“, findet sie, „besteht quasi körperlos nur aus weitem Mantel, weiter Hose und Hut.“ Peter Lenk, der Menschenkenner, dagegen stelle die Regierenden sehr menschlich dar.

Immer wieder wird das Handy gezückt und die Skulptur von vorne, von hinten, seitwärts fotografiert. Kaum ein anderes Motiv in Stuttgart dürfte momentan bei Selfie-Fans so begehrt sein wie der FKK-Ministerpräsident mit Feigenblatt. Als Kunstwerk besitzt der Grüne einen drahtig-muskulösen Körper mit 72 Jahren und ringt mit ICE-Zügen statt wie einst der Grieche mit Schlangen. Peter Lenk hat zwei weitere Feigenblätter für Kretschmann als Ersatz angefertigt, für den Fall, dass jemand diesen entblättert. Natürlich ist es streng verboten, die Skulptur zu berühren oder gar hoch zu klettern. Aber man weiß nie.

Während alles ausfällt, kommt Stuttgart zu einer neuen Sehenswürdigkeit

In einer Zeit, in der eine Attraktion nach der anderen ausfällt, vom Christmas Garden bis zum Weihnachtsmarkt, von der Eisenbahnlandschaft bis zum Schlittschuhlaufen auf dem Schlossplatz, ist Stuttgart doch noch zu einem Magneten gekommen. Man sieht den Betrachtern selbst unter Masken an, wie sie sich freuen über die neue Sehenswürdigkeit. Mitunter bleiben sie lange stehen, weil es so viel Details zu entdecken gibt. Dann fragt man sich gegenseitig: „Soll das der Oettinger sein?“ Und: „Wo ist der Kuhn?“ Nach langem Suchen vermeldet einer schließlich: „Der OB ist nur ganz klein auf der Rückseite!“ Die Flugblattverteilerin wollte Führungen anbieten, um zu erklären, wer, wo und warum auf dem Werk abgebildet ist. Aber das geht nächste Woche nur mit Menschen aus zwei Haushalten. Ohnehin wird man wegen Corona darauf achten müssen, dass nicht zu viele gleichzeitig stehen bleiben.

Kunst, die sich einmischt, gefällt nicht allen

Bis März 2021 bleibt das „Lenkmal“ vor dem Stadtpalais mit zwei weiteren Skulpturen. Noch weiß keiner, was danach damit geschieht. Bis zum Frühling werden Menschen also Spaß haben, wenn einer plötzlich begeistert ausruft: „Oh schaut mal, der Juchtenkäfer ist auch drauf!“

Der Künstler freilich denkt nicht nur an Spaß. Er ruft zum „neuen Diskurs über die Zukunft der Stadt mit einem neuen Bahnhof“ auf. Kunst, die sich einmischt, auch das dürfte sich nun zeigen, hat nicht nur Fans.