Nach fast einem Jahrhundert gelebtem Leben sieht die Großmutter derzeit vieles lockerer als unsere Kolumnistin – und legt die Coronaregeln bisweilen recht großzügig aus. Foto: Welzhofer

Wie soll meine 93-jährige Großmutter bloß die Einsamkeit der Corona-Isolation überstehen? Das fragte sich unsere Kolumnistin. Aber dann stellte sie fest: Die Oma fehlte ihr fast mehr als umgekehrt.

Stuttgart - Ich habe das große Glück, noch eine Großmutter zu haben, die mich immer noch recht intensiv durch mein Leben begleitet. Die Großmutter ist bald 94 Jahre alt und gut beinander, wie man in Bayern so sagt, wo sie herkommt. Mit ein bisschen Hilfe im Haushalt kann sie ganz allein in ihrer Wohnung leben.

Normalerweise fahren meine Kinder und ich die Großmutter ungefähr ein Mal im Monat besuchen. Aber gerade als der März-Besuch anstand, kamen Corona und der so genannte Lockdown. Und Herr Söder riegelte sein Bundesland besonders fest ab.

Ich habe die Großmutter also schon seit gut drei Monaten nicht mehr gesehen und mir in dieser Zeit viele Sorgen um sie gemacht. Natürlich hatte und habe ich Angst davor, dass sie sich mit dem Virus ansteckt und vor allem, was dann vielleicht passiert. Aber ich habe mich auch gesorgt, wie das werden würde für sie, allein in ihrer Wohnung.

„Mir geht es prächtig!“, rief die Großmutter ins Telefon

Die Großmutter war ihr ganzes Leben lang ein Gesellschaftsmensch. Auch im hohen Alter hat sie noch einen ziemlich unternehmungslustigen Freundeskreis. Wenn wir die Großmutter besuchen, vergeht kaum eine Stunde, in der nicht eine Freundin anruft oder gleich mit einem Piccolo Fürst Metternich vor der Türe steht. Das Kontaktverbot – da war ich mir sicher – würde die Großmutter hart treffen.

Umso überraschter war ich, wie gut gelaunt mich die Großmutter jedes Mal am Telefon empfing. „Mir!? Mir geht es prächtig!“, rief sie auf meine bange Frage nach ihrem Befinden hin. Und dann wollte sie sofort über mich sprechen. Oder – noch viel dringlicher – über die Urenkelkinder. „Das Wichtigste ist, dass ihr gesund bleibt!“, war ihr Motto – und das fand ich schon ein bisschen absurd.

Erst nach und nach habe ich verstanden, dass der großmütterliche Gleichmut unter anderem daran liegt, dass sie sich bisher nicht wirklich an die Söderschen Auflagen und Empfehlungen der Virologen gehalten hat. Sie trifft sich zum Beispiel einfach weiterhin mit einer Freundin zu gemeinsamen Ausfahrten und Mittagessen. Und auch ins Städtle und zum Supermarkt geht sie regelmäßig einkaufen – obwohl das jemand für sie erledigen könnte.

Die Großmutter nimmt vieles lockerer als ich

Vor allem aber ist für die Großmutter offenbar völlig klar, dass dieses Virus ihr nichts anhaben kann. Sie ist nämlich überzeugt, sich sowieso nicht anzustecken. Und, falls doch, sei das nicht so schlimm: „An irgendetwas muss ich ja endlich mal sterben!“, sagt die Großmutter auf meine Beschwörungen hin, dass sie als Hochrisikogruppenangehörige doch bitte besonders vorsichtig sein sollte. Und dabei lacht sie. Aber ich glaube, sie meint es ziemlich ernst.

Überhaupt habe ich festgestellt, dass die Großmutter nach fast einem Jahrhundert gelebtem Leben in dieser Welt, manches ein bisschen anders sieht als ich. Wenn ich von den Kindern spreche, die jetzt, isoliert von ihren Kitafreunden, doch arg leiden würden, dann muss sie ein bisschen kichern. Und dann erzählt sie von ihrer Schulzeit, die sie fast komplett im Krieg verbracht hat. Wie sie jeden Tag mit dem Fahrrad zum Gymnasium in der nächsten Stadt fuhr, während die Tiefflieger über sie hinweg jagten. Solange, bis die Schule ausgebombt war. Und wenn wir über die Wirtschaft sprechen, die jetzt in eine tiefe Rezession gleitet, dann sagt die Großmutter, dass die Menschen sich das doch alles selbst eingebrockt hätten mit ihrer Globalisierung und ihrem immer weiter, immer mehr. „Die Welt ist mir eh viel zu kompliziert geworden“, sagt die Großmutter.

Und während sie also mit einer gewissen Gelassenheit durch diese Krise steuerte, und auch nicht den Anschein erweckte, daheim auf meine Anrufe zu warten (einmal, als ich anrief, musste sie dringend einen Film zu Ende sehen, ein anderes Mal schnell mit der Freundin in den Baumarkt einen Liegestuhl kaufen), begann ich sie immer mehr zu vermissen.

Blut ist stärker als Angst

Und ich fragte mich, wann ich mir die größeren Vorwürfe machen würde: Wenn ich sie gegen jede Vernunft und jedes Verbot besuchen fahre und dann vielleicht unbemerkt mit Corona anstecke? Oder wenn ich sie monatelang nicht besuche und sie irgendwann tot umfällt (dieser Möglichkeit muss man bei 93 Jahren ins Auge sehen) – und ich sie also nicht mehr lebend getroffen hätte?

Am Ende siegte die Sehnsucht. Nach der Großmutter, die mich nun schon 41 Jahre durchs Leben begleitet. Und nach dem Ort in Bayern, der für mich eben auch immer noch Heimat ist. Blut ist stärker als Angst, hab ich festgestellt. Also hab ich die Großmutter diese Woche, am allerersten Tag der Lockerungen in Bayern mit jeder Menge (Groß-)Muttertagsbilder der Urenkel im Gepäck besucht. Nur ein paar Stunden, beide mit Maske, die meiste Zeit im Freien.

Wir saßen auf ihrer sonnenbeschienenen Terrasse und haben uns über diese verrückte Welt unterhalten. Ich habe von heute erzählt. Die Großmutter von früher. Wie sehr habe ich das vermisst. Sie ist einfach ein wirklich wichtiger Teil meiner Familie. Und auch der Großmutter hat es gefallen. „Vielen Dank, dass du gekommen bist“, hat sie am Ende gesagt. Und ich habe mich gefragt, ob sie am Telefon vielleicht auch deshalb so betont gut gelaunt war, weil sie mich nicht beunruhigen wollte. Auch das wäre nämlich ziemlich typisch für sie.

Lesen Sie hier mehr aus der Kolumne „Mensch, Mutter“.

Lisa Welzhofer ist Autorin der Stuttgarter Nachrichten und Mutter zweier Kinder (6 und 3 Jahre alt). In ihrer Kolumne macht sie sich regelmäßig Gedanken über Familie und übers Elternsein, über Kinder, Kessel und mehr. Sie schreibt im Wechsel mit ihrem Kollegen Michael Setzer, der als „Kindskopf“ von seinem Leben zwischen Metal-Musik und Vatersein erzählt.