Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung werden aus der Ukraine nach Deutschland gebracht. Foto: epd/Cornelia Suhan

Weil ein Mensch ohne Herz und Seele im Jahr 2022 ein Land überfällt, sind viele Ukrainer auf der Flucht. Wer aber hilft Menschen, die nicht fliehen können?

Ich habe einen wiederkehrenden Albtraum. Meine Tochter geht in einer Menschenmenge verloren. Während andere Kinder in solch einem Fall erklären können, dass die trotteligen Eltern wirklich nur einen einzigen Moment nicht aufgepasst haben und ihren Name und vielleicht sogar die Adresse des Heimathafens nennen können, ist unsere Tochter in dieser Situation hilflos.

Unsere Traumtochter kann nicht sprechen. Nachdem sie sich altersgemäß entwickelt hatte, hat sie inzwischen all die Worte verloren, die sie einmal gekonnt hat. Zurückgeblieben ist nicht mehr sehr viel mehr als Mama, Papa, Oma, Opa, Auto, Aua.

Albtraum trifft auf Krieg

Unsere Tochter hat einen seltenen Gen-Defekt, der besonders fies ist, weil sich die Kinder erst „normal“ entwickeln, ehe ohne Vorwarnung eine Rückentwicklung einsetzt: Die Betroffenen verlieren in frühester Kindheit die Fähigkeit, zu sprechen und sich zu bewegen. Die Regression kann im Rollstuhl enden. Und alles nur, weil eine Genmutation dazu führt, dass ein bestimmtes Protein zur Informationsübermittlung fehlt.

Nun trifft mein wiederkehrender Albtraum auf den Krieg in der Ukraine. Was wäre, wenn wir nicht die Gnade der westlichen Geburt gehabt hätten? Wenn unsere Vorfahren vor 200 Jahren aus Baden-Württemberg gen Osten ausgewandert wären, als unsere heutige Heimat das Armenhaus von Europawar? Wenn meine Ururururururgroßeltern in Odessa hängen geblieben wären, dieser wunderschönen Stadt, in der nun Wohnhäuser von russischen Geschossen getroffen werden, weil ein Wahnsinniger seine Allmachtsfantasien nicht im Griff hat und deshalb Tausende sterben müssen?

Menschen mit Behinderung in der Ukraine

Krieg ist immer grausam, vor allem für Kinder. Dass Menschen mit Behinderung in einem Krieg aber deutlich geringere Chancen haben zu fliehen, weil sie auf ihren Rollstuhl angewiesen sind oder weil sie nicht aus ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen werden können, lässt einen hilf- und fassungslos zurück.

Was, wenn man mit einem Kind mit Behinderung nächtelang in einem kalten Keller kauern oder an der Grenze stundenlang auf die Gunst von Soldaten warten muss? Mit einer Tochter, deren autistisches Spektrum keine Abweichung vom gewohnten Alltag zulässt?

Medikamente werden knapp

Der Elternverein, in dem wir Mitglied sind, hat Familien in der Ukraine im Blick, die Angehörige mit demselben Syndrom pflegen, wie es unsere Tochter hat. Diese Familien können nicht weg, Medikamente werden knapp, zum Beispiel gegen epileptische Anfälle. Ein Lkw-Fahrer aus Polen versucht, die Familien mit den nötigsten Notfallmitteln zu versorgen. Jetzt geht dem Verein langsam das Geld aus, um neue Medikamente zu besorgen. Wer helfen möchte, findet hier mehr Informationen.

Diese Hilflosigkeit, die einen in der süddeutschen Sicherheit überkommt: Wie muss sich Krieg mit Behinderung anfühlen? Wie hält man es aus, dass man noch mehr als sonst auf Hilfe von anderen angewiesen ist, weil ein Mensch ohne Herz und Seele im Jahr 2022 ein Land überfallen muss? Die Vorstellung, dass unsere Tochter auf der Flucht vor Bomben von uns getrennt wird, ist unerträglich. Für die Familien in der Ukraine ist dieser Albtraum Realität.

Unser Autor ist Redakteur der Stuttgarter Zeitung und Nachrichten. Er hat zwei Kinder – seine Tochter kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt.