Ferienfreiheit finden alle Kinder gut. Foto: IMAGO/Westend61/IMAGO/Anastasiya Amraeva

Die Tochter unseres Autors kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt. Das hat Auswirkungen auf das gesamte Leben – auch auf die Urlaubsplanung.

Das Leben mit behindertem Kind verändert alles, auch die Urlaubsplanung. Hotelurlaub in einer Anlage mit einem proppenvollen Speisesaal funktioniert bei uns nicht mehr, seit an einem Freitag vor Pfingsten bei unserer Tochter ein seltener Gendefekt diagnostiziert wurde: Zu viele Geräusche kann unsere Sechsjährige nicht verarbeiten.

Entweder sie flieht direkt, wenn sie den begehbaren Geräuschpegel betritt. Oder sie schreit, wenn sie überfordert ist, weil sie ihre Ängste nicht in Worte fassen kann. Der Fehler in ihrem genetischen Bauplan hat zum Verlust ihrer Sprache geführt.

Anschluss und Rückzugsmöglichkeit

Eine Auszeit in der Einöde können wir ihrem fast neunjährigen Bruder dagegen nicht zumuten. Er spricht für seine Schwester, findet schnell Anschluss und hatte in den vergangenen drei Urlauben drei beste Ferien-Freunde fürs Leben, mindestens.

Wir brauchen also beides: Rückzugsmöglichkeit und Anschluss. Zwischen Weihnachten und Silvester waren wir in einer Einrichtung der Björn Schulz Stiftung am Chiemsee. Diese Stiftung widmet sich der Kinderhospizarbeit und bietet Familien mit lebensverkürzt erkrankten Kindern eine Auszeit, und das trotz des tieftraurigen Themas mit Leichtigkeit und Herzlichkeit.

Spaziergang mit Prachtesel

Auf dem frisch renovierten Bauernhof der Stiftung gibt es alles, was man zum Überleben braucht und mit T anfängt: Turnhalle, Tiere, Tischtennis, Tischfußball, Therapien. Zu meinen persönlichen Highlights gehörte eine Eselwanderung an den Chiemsee: Mein Sohn und ich führten Blümchen – so hieß unser Prachtesel, der sich gar nicht stets zuerst nannte, morgens aber einen ordentlichen Lärm veranstaltete – , zu einer Futterwiese am See. Könnte ich mir auch hauptberuflich vorstellen.

Noch spannender als die Tiere waren nur die anderen Familien: Unter den anwesenden Kindern waren zum Beispiel Zwillinge, die ganz fantastisch Basketball spielen konnten, obwohl eines der beiden Mädchen mit einer Herzerkrankung zu kämpfen hat. Oder der aufgeweckte Junge mit einer Gehirnfehlbildung. Noch nie habe ich einen Zehnjährigen kennengelernt, der so empathisch und liebevoll mit unserer Tochter gespielt hat. Ein furchtloser Prachtkerl, was einen wieder mal zur Grundsatzfrage führt, wer normal und wer behindert ist in dieser undurchschaubaren Welt.

Von dieser Frage ist es nicht weit zum furchtbaren Satz: „Die sieht doch gar nicht behindert aus“, den wir in Bezug auf unsere Tochter zu hören bekommen. Wenn unsere Kleine mal wieder Alarm macht im Alltag, führt das zu verständnislosen Blicken, nach dem Motto: Was hat die denn, die sieht doch ganz normal aus. Und wenn sie dann auch noch keinen Ton herausbekommt oder in ihrer Fantasiesprache lautierend antwortet, werden weder Blicke noch Kommentare besser.

Geschrei am Deich

Einmal hat sie an einem Deich im Nordseeurlaub einen Meltdown gehabt und furchtbar geschrien. Ein durchgeknallter Rentner ist daraufhin ohne Vorwarnung auf sie zugegangen, hat sich zu ihr hinuntergebückt und ihr in voller Lautstärke ins Gesicht geschrien. Meiner Frau habe ich es zu verdanken, dass ich in diesem Moment keine Gewalt angewendet habe.

Beruhigt habe ich mich erst wieder, als meine Tochter kurz danach wieder lächeln konnte. An Ferientagen strahlt sie dabei mit ihren Augen so intensiv, dass man in diesem Blick gerne lebenslang Urlaub machen würde.

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Unser Autor ist Redakteur der Stuttgarter Zeitung. Er hat zwei Kinder – seine Tochter kam mit einem seltenen Gendefekt zur Welt.