Kunstbetrachtung im Netz Foto:  

Viele Museen erproben aufwendige digitale Tools. Die National Gallery London macht dagegen im Internet vor, dass gute Kunstvermittlung ohne technischen Schnickschnack auskommt.

Stuttgart/London - Allein bei den Begriffen kann man ins Schleudern kommen: Game, VR, AR oder Chatbot. Viele Museen versuchen derzeit, große Schritte in Sachen Digitalisierungzu machen, und experimentieren mit komplexer Technik. Die National Gallery London geht den anderen Weg und präsentiert im Internet Angebote, die ungewöhnlich einfach sind. Statt sich auf digitale Werkzeuge zu verlassen, setzt das berühmte Londoner Museum auf das, was es besitzt: die Kunst.

So hat etwa Lucy Chiswell ein Video hochgeladen, in dem es um ein Landschaftsbild von Rubens geht. Die Kuratorin für Malerei von 1600 bis 1800 ist eine freundliche junge Frau, die in ihrem Wohnzimmer sitzt und in leicht verständlichem Englisch erst einmal erklärt, was sie vorhat. Nein, die Kuratorin tritt nicht an, die Menschen mit Zahlen und Fakten zu bombardieren. Sie will ihnen nicht die wichtigsten Stilmerkmale des flämischen Barock eintrichtern. Lucy Chiswell will die Kunst als „Hilfsmittel“ missbrauchen, als eine Möglichkeit, sich die Natur ins Haus zu holen. Der Beitrag ist während des ersten Lockdowns entstanden.

Es geht nicht um Zahlen, Fakten, Stile und Ismen

Gemessen an den Apps und Games, die derzeit allerorten entwickelt werden, ist es ein absolut unspektakuläres Angebot, das es doch in sich hat. Denn diese zehn Minuten Kunstbetrachtung haben nichts zu tun mit der Auseinandersetzung mit Kunst, wie sie in vielen deutschen Museen praktiziert wird. Hierzulande ist es üblich, den Menschen Kunstgeschichte zu vermitteln, also Zahlen, Fakten, Fachbegriffe, Epochen und Stile. Lucy Chiswell ordnet das Werk dagegen nicht in den Kanon ein und zeichnet auch nicht die Entwicklung der Landschaftsmalerei nach. Sie schaut einfach nur. Sie taucht ein in das Gemälde – und nimmt ihr Publikum mit, das Bild zu durchschreiten wie bei einem Spaziergang. Immer wieder hebt sie Details hervor, die sie besonders mag. Sie erzählt von Rubens, lenkt den Blick auf die spiegelnden Fensterscheiben des Hauses, das links ins Bild ragt. Und indem die Kuratorin mit einer weißen Linie die Konturen einiger Motive nachzeichnet, macht sie wie nebenbei deutlich, wie raffiniert Rubens den Blick der Betrachter lenkt.

Herz, Hirn und Augen werden angesprochen

Dort, wo es nötig ist, lässt Lucy Chiswell ihr Wissen einfließen, aber eben nicht mit dem Ziel, ihr Publikum zu Kunsthistorikern auszubilden. Hier schlägt sie kurz einen Bogen durch die Geschichte, dort sensibilisiert sie für die raffinierten Lichtwirkungen oder zoomt einen roten Punkt in der braunen Landschaft heran: Es ist eine Dame in rotem Kleid, die zum Markt fährt.

All das wirkt sehr einfach und ist doch bemerkenswert, weil Chiswell Herz, Hirn und Augen gleichermaßen anspricht – und es schafft, dass man als Betrachter in nur wenigen Minuten mitten im Bild ist und es so schnell nicht wieder vergessen wird. Game, VR, AR oder Chatbot mögen mitunter hilfreich sein bei der Kunstbetrachtung.

Video unter :www.nationalgallery.org.uk/stories/a-curated-look-a-day-in-the-countryside