Kofi Annan begeistert das Publikum beim Kirchentag in Stuttgart Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Kofi Annan und Frank-Walter Steinmeier sind neben Angela Merkel und Joachim Gauck die prominentesten Redner auf dem Kirchentag. Auf dem Podium zur internationalen Politik sprechen Annan und Steinmeier über Wege aus der Krise und zum Frieden. Es wird ein Erlebnis der besonderen Art.

Stuttgart – „Die Welt ist aus den Fugen. Wer übernimmt Verantwortung in Krisen und Konflikten?“

Es dürfte kein anderes Podium auf diesem 35. Evangelischen Kirchentag geben, das weltpolitisch aktueller, brisanter und dringlicher nicht sein könnte. Die Diskutanten sind hochkarätig und im Thema versiert wie kaum ein anderer. Das gilt vor allem für Frank-Walter Steinmeier. Der 59-jährige SPD-Politiker ist als Bundesaußenminister der deutsche politische Handlungsreisende in Sachen Weltpolitik.

Kofi Annan war ghanaischer Diplomat und zwischen 1997 und 2006 siebter Generalsekretär der Vereinten Nationen. 2001 erhielt Annan gemeinsam mit den Vereinten Nationen den Friedensnobelpreis „für seinen Einsatz für eine besser organisierte und friedlichere Welt“.

Bischof Nick Baines aus Leeds, Großbritannien, war von 2011 bis 2014 Bischof von Bradford in der Kirche von England und ist seit Februar 2014 Bischof der neu geschaffenen Diözese Leeds. „Jeder ist verantwortlich Frieden zu schaffen“, betont er. „Wir haben besondere Herausforderungen in dieser Generation, die wir anpacken müssen.“

Es sei ein kleines Wunder, dass „wir diese drei Männer heute gleichzeitig beim Kirchentag als Gastredner begrüßen dürfen“, sagt Kirchentagspräsident Andreas Barner zu Beginn der Veranstaltung von 11 bis 13 Uhr in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle. Es sei das erste Mal in über 30 Jahren Kirchentag, dass die größte Halle einer Stadt nicht ausreiche, um alle Interessierten zu fassen. Die Schleyer-Halle ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Vor der Halle drängen sich die Besucher, die vor den „Halle überfüllt“-Schildern stehen.

"Hat die Welt uns vergessen?"

„Wo ist Gott?“, habe ihn eine alte, einsame Frau in der syrischen Beeka-Ebene gefragt, erzählt Frank-Walter Steinmeier. Sie habe alles verloren – Familie, Haus, Heimat. „Wo ist Gott? In dieser Frage klingt auch mit: Hat die Welt uns vergessen? Was tut ihr, um uns zu helfen?“ Steinmeier erzählt von einem Besuch in einem libanesischen Flüchtlingslager. 32 Jahre nach der berühmten Rede Willy Brandts auf dem Kirchentag sei die Welt nicht besser geworden, so Steinmeier. Vieles habe sich verändert, aber nicht die Aufgaben. „Außenpolitik ist das illusionsfreie Bemühen immer wieder zum Frieden beizutragen“, zitiert Steinmeier Brandt. „Frieden muss erarbeitet werden“, sagt der SPD-Politiker. Vor allem dann, wenn das Vertrauen zwischen den Konfliktparteien restlos ruiniert sei. Jemen, Syrien, Irak, Mali, Libyen, Ukraine. „Wenn nichts mehr geht zwischen den Konfliktparteien, dann darf sich die Welt, darf sich Deutschland verweigern.“

„Das sind Krisenherde, die beunruhigen - nicht nur den Außenminister, die uns alle in Atem halten. Das sind gewaltige tektonische Veränderungen in unserer Welt.“ Das sei kein Zufall. „Wenn man eine Ordnung zerstört, muss man wissen, wie es danach weitergeht“, sagt Steinmeier mit Blick auf die Kriege und Folgekonflikte im Irak, in Syrien und anderswo auf der Welt. „Am liebsten wäre es mir, wir würden solche Fehler von vorneherein vermeiden.“

„Ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der deutschen Teilung und des Kalten Krieges ist die alte Ordnung zerfallen, aber eine neue, die an ihre Stelle treten könnte, ist nicht in Sicht. Wir leben in einer Welt auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Nicht in einem friedliche Seminar-Diskurs. Das Ringen um Dominanz und das Aufkommen nichtstaatlicher Akteure – die Verbindung von mittelalterlicher Barbarei und Internet – wie der Islamische Staat entlädt sich in jenen bedrohlichen Krisen rund um den Erdball.“

„Was müssen wir machen, um klug zu werden?“, fragt Steinmeier. „Klug werden bedeutet eine friedlichere, gerechtere Welt zu schaffen.“ Notwendig sei Verantwortung für den Frieden zu übernehmen. „Das ist nie einfach, immer riskant und nie von schnellen Erfolgen gekrönt. Als Christen tragen wir aber Verantwortung für unser Handeln wie für unser Nicht-Handeln.“

Deutschland habe eine besondere Verantwortung. „Gerade uns sollte daran gelegen sein, dass es Spielregeln gibt für Vertrauen und Verlässlichkeit. Starke Schultern müssen mehr tragen als schwache.“ Und zu Kofi Annan gewendet: „Lieber Kofi, der ganze Kirchentag dankt Dir, dass Du den Weg zu uns gefunden hast.“

Standing Ovations in der Halle

„Wir Deutschen haben nicht vergessen“, sagt Steinmeier weiter, „die Gründung der Vereinten Nationen war eine Antwort auf die Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Deutschland war vor 70 Jahren nicht Subjekt, sondern Objekt der Weltpolitik. Und heute? Wir sind wiedervereint, fest verankert in Europa. Deutschland vor 70 Jahren, das war der Brandstifter und Zerstörer von Ordnung. Heute muss es Vorreiter sein bei der Stiftung von Ordnung, gerade mit Hilfe der Vereinten Nationen.“

Diese Idee einer internationalen Ordnung, für welche die UN stehe, versinnbildliche die Hoffnung auf Frieden, so Steinmeier. „Alle, die unterdrückt sind, mahnen uns: Schaut nicht weg! Verzweifelt nicht, wenn die kleinen Schritte nicht die großen Lösungen sind! Aufhören ist keine Option und Tatenlosigkeit keine Haltung. Da kann man nichts machen, ist ein gottloser Satz. Solange wir nicht aufgeben, behält die Hoffnung ihren Platz.“

Steinmeier: „Wenn ich über Hoffnung rede, sind es Menschen wie Sie auf dem Kirchentag, die diese Hoffnung auf Frieden immer wieder neu begründen. Die helfen, dass Menschen, die ihre Heimat verloren haben, hier einen Platz zum Ausruhen finden und dafür will ich Ihnen und allen herzlich danken. Das Ziel fest vor Augen, aber auch bei Rückschlägen es nicht aus den Augen verlieren – lasst es uns so halten miteinander!“ Damit endet Steinmeiers Rede und damit beginnt ein langer, tosender Applaus des Publikums. „Machen Sie sich auf 1000 Anfragen aus dem Publikum gefasst", sagt der Moderator.

Kofi Annan - die personifizierte Hoffnung auf eine bessere Welt

„Kofi Annans Biografie als Geschichte des Scheiterns?“ Nein, sagt der Moderator. Kofi Annan sei die personifizierte Hoffnung auf eine bessere Welt.

Eine „wunderbare Veranstaltung des Dialogs und der Toleranz“, nennt der 77-jährige Annan den Kirchentag. Er hat den roten Kirchentagsschal um seine Schultern gelegt. Er redet langsam, klar, mit dem Pathos eines weisen Mannes. „Gesetzeslose Gruppen in Syrien, Irak, Jemen und Lybien verbreiten Angst und Schrecken. Im Mittelmeer riskieren Menschen alles, um der Armut und der Verfolgung zu Hause zu entkommen.“ Wiedererstarkender Nationalismus, schreckliche Armut und die Folgen des Klimawandels führten dazu, dass die Welt außer Fugen, außer Kontrolle geriete.

Annan nennt hierfür drei Faktoren: den demografischen Wandel, den technologischen Fortschritt und die Globalisierung. Das Versagen der globalen Institutionen und die Erfahrungen des Krieges gegen den Terror in Afghanistan und Irak habe ein neues Bewusstsein geschaffen. Die internationalen Organisationen müssten reformiert und demokratischer werden, mahnt Annan. „Wir haben große Fortschritte gemacht. Das aktuelle internationale System ermöglicht, dass Staaten die meisten Streitigkeiten friedlich zu lösen versuchen.“

„Ladies and Gentlemen“ – Applaus brandet auf – „Trotz dieses Fortschrittes können wir uns es nicht leisten selbstgefällig zu werden.“ Es gebe viele Herausforderungen: Der Sicherheitsrat der UN müsse sich einschalten, wenn Staaten ihre Bevölkerung nicht schützen könnten. „Es gibt Zeiten, in denen der Einsatz von Gewalt legitim sein kann. Wir haben die Pflicht alles zu tun, was wir können, um Ungerechtigkeiten daheim und im Ausland zu korrigieren.“

"Gehen Sie weiter den Weg der Menschlichkeit"

Ein zentrales Thema, so Annan weiter, sei die Migration, die schon Frank-Walter Steinmeier angesprochen habe. „Migration kann nicht gestoppt werden. Wir müssen damit umgehen, indem wir auch das Interesse der Ursprungsländer im Blick haben. Deutschland und andere Länder sind besonders offen für Flüchtlinge und deshalb fordere ich sie auf: Gehen Sie weiter den Weg der Menschlichkeit.“

Erst Solidarität mache uns menschlich. Annan: „Wir sitzen alle im gleichen Boot.“ Die UN-Charta sei geschrieben worden im Namen aller Völker, um Frieden zu schaffen und Gerechtigkeit aufzubauen. „Wenn die Führer der Welt versagen, dann muss jeder von ihnen Verantwortung übernehmen. Wir geben ein Bekenntnis ab, wenn wir Solidarität beweisen.“

„Ich verlasse mich auf euch alle, dass Sie das wahr machen“, ruft er den Zuhörern zu. „Dankeschön. Vielen Dank.“ Mit diesen Worten schließt der frühere UN-Generalsekretär. Der Applaus auf die große Rede will nicht enden. Jubel-Rufe, die Menschen stehen auf. Kofi Annan und Frank-Walter Steinmeier setzen sich zum Podiumsgespräch, um die Fragen der Kirchenteilnehmer zu beantworten.

Wahrlich, ein großer Tag.