Mother ist eine intelligente Maschine – aber ist sie auch vertrauenswürdig? Foto: Concorde

Ein Roboter zieht auf einer verwüsteten Erde den letzten Menschen groß: Feines australisches SF-Kino für ein Zeitalter klüger werdender Maschinen.

Stuttgart - Ein unterirdischer Bunker in nicht allzu ferner Zukunft. Nach einem letzten großen Krieg ist alles Leben auf der Erde erloschen. Doch irgendwo in dem Geflecht aus Gängen und Kammern schlummern zigtausende Embryonen in einer Nährlösung und warten darauf, von Mutter, einem Androiden, in eine gläserne Plazenta gebettet und innerhalb weniger Stunden bis zur Geburtsreife ausgebrütet zu werden. Das erste Kind, das in Grant Sputores Science-Fiction-Drama „I am Mother“ so zur Welt kommt, ist Tochter (Clara Ruggard), ein großäugiges, neugieriges Mädchen: Mutters ganzer Stolz.

Mit 16 beginnen die Probleme

Wie im Zeitraffer schaut man Tochter beim Aufwachsen zu, sieht, wie sie zahnt und von Mutter in den Schlaf gewiegt wird, wie sie lernt, Origami-Figuren zu falten und Pirouetten zu drehen. Als Tochter etwa 16 Jahre alt ist, beginnen aber die Probleme.

„I am Mother“ ist ein ungeheuer spannendes Science-Fiction-Projekt, das in den USA allerdings nicht ins Kino kam, sondern direkt beim Streamingdienst Netflix veröffentlicht wurde. In Deutschland hingegen ist das ästhetisch anspruchsvolle Kammerspiel zunächst auf der großen Leinwand zu sehen; ein eindrucksvolles Erlebnis, trotz des begrenzten Raumes und Personals.

Der australische Filmemacher Sputore, in seiner Heimat bisher bekannt für die Mitwirkung an der TV-Serie „Castaway“, gelingt mit seinem ersten Langspielfilm ein großer Wurf. Das typische Science-Fiction-Setting wird hier mit komplexen Fragen der Pädagogik, Ethik und Zukunftsforschung unterfüttert.

Die Stimme einer Frau

Wer schon einmal vom Versuch Friedrichs II. gehört hat, der im 12. Jahrhundert verwaiste Säuglinge von bewusst gefühlskalten Ammen versorgen ließ, weiß, wie das grausige Experiment ausging. Weil die Kinder keine emotionale Zuwendung erfuhren, starben sie bald. Gleiches fürchtet man für Tochter. Schrecklich ist es mit anzusehen, wie der von aller Welt verlassene, schreiende Wurm nachts von der Mutter-Maschine getröstet wird. Der Bausatz von Mutter ist zwar an die menschliche Physis angelehnt, besteht aber eben doch nur aus polierten Stahl- und Kunststoffteilen. Immerhin, ihre Stimme klingt wie die einer echten Frau, warm und liebevoll. Im Film genügt die verbale Zuwendung, um Tochter zur klugen, empathischen Jugendlichen heranzuziehen.

Als an der Schleuse des Bunkers eine blutverschmierte Frau (Hilary Swank) auftaucht, gerät Tochter denn auch in einen ernsten Gewissenskonflikt. Mutter hatte stets behauptet, die Erde sei verseucht, weshalb Tochter den sicheren Bunker nie verlassen dürfe. Auch gebe es draußen nichts und niemanden mehr, nur innerhalb des Bunkers könnten beide mit den eingelagerten Embryonen die Familie vergrößern und irgendwann die Erde neu bevölkern. Als nun ein weiterer lebender Mensch vor Tochter steht und um Hilfe bittet, muss sich das Mädchen entscheiden, wem es glauben will.

Besuch aus dem Nichts

In einer weniger bedrohlichen Atmosphäre wäre das Misstrauen von Tochter bloß Zeichen des natürlichen Ablösungsprozesses, den Teenager durchlaufen müssen, um als Erwachsene auf eigenen Beinen zu stehen. Doch für Tochter geht es um viel mehr. Schließlich stellt die aus dem Nichts auftauchende Frau das gesamte Weltbild infrage, das Tochter mithilfe von Mutter bislang entwickeln konnte.

Den menschlichen Gewissenskonflikt ergänzt Sputore mit seinem Co-Autor Michael Lloyd Green um die Perspektive der intelligenten Maschine. Sehr deutlich zeigt Mutter ihre Aversion gegen den ungebetenen Gast, muss zugleich aber gemäß der drei Roboter-Gesetze handeln, die der berühmte Schriftsteller Isaac Asimov postulierte: „1. Ein Roboter darf kein menschliches Wesen (wissentlich) verletzen oder durch Untätigkeit (wissentlich) zulassen, dass einem menschlichen Wesen Schaden zugefügt wird. 2. Ein Roboter muss den ihm von einem Menschen gegebenen Befehlen gehorchen - es sei denn, ein solcher Befehl würde mit Regel eins kollidieren. 3. Ein Roboter muss seine Existenz beschützen, solange dieser Schutz nicht mit Regel eins oder zwei kollidiert.“

Nur das Beste

Wie schon in Asimovs Erzählungen im Sammelband „Ich, der Robot“ (unterm Titel „I, Robot“ mit Will Smith verfilmt) ergeben sich auch in Sputores Szenario bei der Anwendung dieser Gesetze ethische Probleme. So stellt sich heraus, dass Mutter zum Schutz von Tochter in der Lage ist, zu lügen und gegen andere Menschen brutal vorzugehen, wenn diese ihr Kind vermeintlich bedrohen. Immer deutlicher zeigt sich, dass Mutter für Tochter nicht die ist, die sie vorgibt zu sein.

Doch aus Mutters Perspektive, die der absoluten Logik verpflichtet ist, ist ihr teils ethisch verwerfliches Verhalten nachvollziehbar. Sehr spät enthüllt Sputore, wie die Welt außerhalb des Bunkers aussieht: Eine von Monokulturen überzogene Einöde, in der die Reste der Zivilisation von deren rücksichtslosem kapitalistischen Fortschrittsprogramm zeugen. Es zeigt sich, dass Mutter nur das Beste wollte für Tochter: eine Welt ohne Menschen.

I am Mother. Australien 2019. Regie: Grant Sputore. Mit Clara Ruggard, Hilary Swank, Luke Hawker, Rose Byrne. 114 Minuten. Ab 12 Jahren.