Keine Schule, keine Kita, keine sozialen Kontakte: Gerade Kinder in Familien aus schwierigen Verhältnissen sind durch die Beschränkungen besonders gefährdet, sagen Experten. Foto: dpa/Jussi Nukari

Seit die Corona-Beschränkungen gelten, verzeichnet das Kreisjugendamt in Göppingen vermehrt familiäre Krisen. Der Kinderschutzbund ist alarmiert und mahnt die Bürger, besonders wachsam zu sein.

Göppingen - Seit fast sechs Wochen sind Kindergärten wegen der Corona-Krise geschlossen, die Schulen werden jetzt wieder langsam geöffnet. Das öffentliche Leben ist wegen der Kontaktbeschränkungen heruntergefahren. Familien komme in dieser Situation eine zentrale Rolle zu, stellt die Wissenschaftsakademie Leopoldina fest: Sie seien oft der einzige Ort, an dem direkte Kommunikation, Erziehung, Bildung und Unterhaltung, aber auch Spannungsabbau stattfinden und mitunter auch Konflikte ausgetragen werden. Schon zu Beginn der Corona-Maßnahmen warnten Experten davor, dass gerade Kinder und Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen durch die Beschränkungen besonders gefährdet sind. „Wo es vorher schon schwierig war, wird es jetzt noch schwieriger“, sagt auch Stefan Vaihinger, der Leiter des Kinderschutzzentrums in Göppingen.

Wichtige Sozialkontakte fallen in der Krise weg

Beim Kreisjugendamt Göppingen gehen zurzeit vermehrt Meldungen über Krisen in Familien ein, bestätigt Clarissa Truhart, Pressesprecherin des Landratsamtes. Denn die Corona-Krise könne in den Familien zu hohen Belastungen führen: Viele Eltern müssen Kinder und Jugendliche alleine zuhause betreuen, während nicht nur die Entlastung durch Schule und Kita fehlen, sondern auch die Hilfe durch die Großeltern und die gewohnten Angebote von Einrichtungen oder Vereinen. Zudem fallen durch die Corona-Maßnahmen viele wichtige Sozialkontakte weg – und mit ihnen auch wertvolle Beziehungen und Ressourcen, so die Sprecherin des Landratsamts. Beengter Wohnraum und der Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten können zusätzliche Probleme verursachen.

Auch das Homeschooling berge zusätzliches Konfliktpotenzial, sagt Truhart: „Schon vor der Corona-Krise war es für viele Eltern belastend, die schulischen Bildungsaufgaben zuhause umzusetzen.“ Diese Belastung habe sich nun um ein Vielfaches erhöht. Während sich der Druck auf die Familien also erhöht, fehlen den Kindern und Jugendlichen Vertrauenspersonen außerhalb der Familie, ebenso wie der „professionelle Blick“ durch die Mitarbeiter von Kitas, Schulen und Jugendhilfe. Dieser Blick erlaube es häufig, die Nöte und Ängste der Betroffenen zu erkennen, proaktiv Unterstützung anzubieten. Das Kreisjugendamt geht deshalb davon aus, dass „ein nicht unerheblicher Teil“ der Krisensituationen erst später als üblich wahrgenommen wird – und dadurch auch Unterstützung und Beratung später ansetzen.

Experten rechnen damit, dass sich die Lage zuspitzt

Mit den bereits vom Jugendamt betreuten Familien habe sich die Behörde in Verbindung gesetzt, als die Kontaktbeschränkungen in Kraft traten, führt die Sprecherin aus: Es wurde besprochen, welche Kontakt- und Beratungsmöglichkeiten es während der Corona-Krise gibt und ob aktuell bereits Unterstützung gebraucht wird. Generell habe sich die Arbeit des Jugendamts durch die Corona-Maßnahmen in einigen Bereichen „deutlich“ verändert: Hausbesuche werden zum Beispiel nur „in absolut erforderlichen Konstellationen“ und unter Berücksichtigung der geltenden Seuchenschutzverordnung durchgeführt. Die Jugendhilfe sei derzeit stark gefordert, flexible, individuelle, aber auch bedarfsgerechte Unterstützungsformen zu entwickeln: „Dies stellt eine große Herausforderung für alle beteiligten Akteure dar.“

Der Diplom-Sozialarbeiter Stefan Vaihinger, Leiter des Kinderschutzzentrums des Göppinger Kinderschutzbundes, geht davon aus, dass die Spannungen in den Familien in den kommenden Wochen immer größer werden: „Wir rechnen damit, dass sich die Lage weiter zuspitzt.“ Die Situation werde immer schwieriger – auch weil niemand sagen könne, wann wieder der normale Alltag einkehrt. Vaihinger denkt dabei auch an die Existenzängste und finanziellen Sorgen mancher Eltern: „Dadurch gibt es zusätzlichen Druck. Kinder spüren so etwas natürlich.“

Die normale Hilfskette ist derzeit unterbrochen

Trotzdem sei es in der Beratungsstelle relativ ruhig, weil die normale Hilfskette unterbrochen sei: Schule sowie Freunde und Bekannte außerhalb der Familie, die Kinder und Jugendliche sonst bei Problemen direkt ansprechen können, fallen weg. Die Betroffenen würden es oft nicht alleine schaffen, Hilfe zu organisieren. Hinzu kommt: „Aktuell können Kinder und Jugendliche nicht einfach zum Hörer greifen: Zuhause ist immer jemand da.“ Deshalb stünden jetzt alle Bürger in der Verantwortung und müssten wachsam sein, sagt Vaihinger. Wer zum Beispiel bemerkt, dass es bei der Familie in der Nachbarwohnung laut zugeht, könne sich an das Kinderschutzzentrum oder eine andere Stelle wenden. „Das geht auch anonym und ist ganz unverfänglich“, betont er.