Szene aus „Spiegelspiele“ der Truppe Dschungel aus Wien Foto: Ani Antonova

Das internationale Kinder- und Jugendtheaterfestival „Schöne Aussicht“ ist am Wochenende mit ersten Inszenierungen eröffnet worden.

Stuttgart - Theater als Schlupfwinkel, als Ort, an dem im Übermaß Erregung produziert wird und – mit etwas Glück – die Wogen sich auch wieder glätten: dass Theater als Gefühlsbarometer auf beiden Seiten der Bühne funktionieren kann, zeigen im Stuttgarter Jes Theaterensembles aus Österreich (Dschungel Wien) und Belgien (Studio Orka). Eine Frau, ein Mann, fast nackt im irrlichternden Bühnenspot. Ihre Kunst, sich durch ebene und gekrümmte Spiegelfolien der Gesetze der Lichtbrechung zu bedienen, verzaubert. Geführt von der Live-Musik des Violinisten Toni Burgers, entlocken Steffi Jöris und Rino Indiono kleinen und großen Zuschauern immer wieder begeistertes „oh“ und „wow“. Zu staunen ist über vielgliedrige und mehrköpfige Wesen, von asiatischer Mythologie inspiriert, über Stilmittel des Breakdance, durch Spiegeleien vervielfältigt, über absurde Verzerrungen durch gekrümmte Spiegel, über Mollusken, die auf der Bühnenrückwand schwimmen, über surreal wirkendes Figurenspiel. Doch diese verrückte Welt, so die nonverbal und poetisch agierende Intention der Truppe um Stephan Rabl, ist ganz real.

Der Saalaufgang unter Wasser gesetzt, die Luft verqualmt, der Vorhang zerlöchert. Die Requisiten verbrannt. Was wird hier gespielt? Der Löwe von Anton Tschechow? Oder doch die Möwe? Vielleicht besser „Der Sturm“ von Shakespeare? Oder „Kirschgarten“? Nein, ist doch alles abgebrannt, auch die Kirschen. Und was will die zarte Feuerwehrfrau am Bühnenrand? Wer „Studio Orka“ kennt, weiss, dass die Theatertruppe aus Belgien erst das Chaos inszeniert, damit es Ordnung geben kann.

Rudern im Zwielicht

„Mit angemessenem Stolz und Ehrgefühl“ gibt sich Jo Jochems als Direktor zu erkennen. Tom Ternest mimt den einzigen Schauspieler und bekennt mit Tragikomik: „Ich kann mich weder einfühlen noch ausleben ohne Bühnenbild“. Wouter Bruneel ist der empfindsame Bühnenmeister und heimlicher Souffleur. Katrien Pierlet – Kulleraugen unterm Lockenkopf und sehr viel komisches Talent – managt die Technik. Und ach, unter Ilse de Koes Feuerwehrkostüm versteckt sich ein zitterndes Herz, das Vaterliebe sucht. „Wir fangen an, doch ich stehe noch immer im Dunkeln“, ruft der Direktor – hoch im Bühnenboden flackert ein einsames Licht. Dann aber: Voilà, mit großem Pathos wird der Vorhang geöffnet, Barockmusik flutet Bühne und Saal. „Wow“ macht das Publikum.

Trauerweiden säumen ein Schlossportal. Tom Ternest spielt Cyrano von Bergerac. Seine Textlücken füllt Wouter Bruneel, verkleidet als Baum. Im wollenen Leibchen über genährtem Bauch wechselt Bruneel in die Rolle des Nebenbuhlers Christian, Jo Jochems in hellblauer Spitze gibt die umworbene Roxane. So schwelgen sie in geschwollenem Versmaß dahin, bis Katja, die Technikerin, das Stichwort „den Herzensbrand durch Küsse“ zu löschen, missversteht. Mit einem Wasserschlauch rückt sie Protagonisten und Bühne zu Leibe. Urplötzlich kippt das bühnenhohe Schlossportal nach vorn. Das Publikum schreit „huuu“. Jetzt spielen sie – ganz ungewollt – doch noch den „Sturm“ und rudern im Zwielicht gegen die Wogen aus der Luftmaschine. „Wo bin ich, wer bin ich?“ – drei jämmerliche Männerfiguren, ihrer Bühnenpräsenz beraubt, überbieten sich mit Schmähreden. Masken fallen, Kulissenschieben ist zwecklos, das Publikum erlebt Hypochonder, Narzissten, entfesselte Kinder, Schauspieler. Ordnung ins Spiel bringt die Feuerwehrfrau. Ihre Vatersuche – „es sind so viele Männer hier, einer muss es sein“ – erdet die Herrschaften im Theater wie im Leben. Denn „Vatersein ist keine Rolle, die kann man nicht spielen“. Das ist alles so leicht wie herzhaft und bittersüß. Das Publikum rast nach dieser deutschsprachigen Erstaufführung.

Weitere Aufführungen der „Schönen Aussicht“ unter www.jes-stuttgart.de