Wolf Dombrowsky Foto: Forum/Peter Mayer

Gaffer folgen menschlichen Trieben: Sei es Schaulust oder Inszenierungslust. Der Katastrophenexperte Wolf Dombrowsky warnt davor, die beiden zu verwechseln oder gar in einen Topf zu werfen.

Stuttgart - Wenn sich bei schweren Verkehrsunfällen oder anderen Katastrophen gaffende Zuschauerreihen bilden, stecken gleich mehrere menschliche Triebe dahinter, darunter die Schaulust und die Inszenierungslust. Der Katastrophenexperte Wolf Dombrowsky warnt davor, die beiden zu verwechseln oder gar in einen Topf zu werfen.

Herr Dombrowsky, können Sie erklären, warum wir Menschen so gerne live zusehen, wenn anderen Übles widerfährt? Bietet das Fernsehen nicht genug Schreckensbilder aus aller Welt?
Wir wollen mit eigenen Augen sehen und nicht durch zweite Hand. Die Medien steigern mit ihren Bildern sogar den Wunsch danach, es sozusagen „endlich mal mit eigenen Augen zu sehen“. Etwas Schlimmes aus sicherer Distanz zu beobachten dient als eine Art Erlebnisvorlage, mit der sich der Mensch ins Verhältnis setzen kann. Er denkt daran, dass er fast das Opfer gewesen wäre, und fantasiert darüber, was wäre, wenn ihm das passiert wäre. Das ganze aristotelische Theater läuft so ab: Die Leute lassen sich erschrecken, werden geläutert und zur Katharsis geführt, also vom erregten Gemütszustand gereinigt. Dieses Bedürfnis nach Erkenntnis liegt in der Natur des Menschen und kann auch durch Gesetze nicht ausgetrieben werden.
Heutzutage schauen jedoch viele Schaulustige gar nicht mit eigenen Augen, sondern durch das Smartphone zu, um vor dem Schrecklichen zu posieren oder Videos davon ins Netz zu stellen.
Das rührt von einer anderen Lust her, nämlich der, sich zu inszenieren, derzeit auch schön zu studieren bei Herrn Trump, der gern am Schreibtisch im Oval Office posiert. Leute mit dieser Neigung wollen sich wahrscheinlich gar nicht ein Bild von der Lage machen, sondern lieber sich selbst ins Bild setzen, um der Welt zu zeigen, dass sie dabei waren und deshalb irgendwie toll sind. Dass ihr Handeln von fehlender Empathie zeugt, ist ihnen in dem Moment gar nicht bewusst.
Dem Bundestag liegt ein Gesetzentwurf vor, wonach unter anderem die Behinderung von Rettungsarbeiten künftig unter Strafe gestellt werden soll.
Ich halte das für wenig sinnvoll. Man will doch die Leute dazu bringen, nicht mehr nur gaffend oder filmend im Weg zu stehen, sondern mitzudenken, mitzufühlen und solidarisch zu handeln. Durch Gesetze bewirkt man das Gegenteil, nämlich den Reflex, sich nicht erwischen zu lassen. Vielleicht trifft man einen Doofen, der Rest lacht sich ins Fäustchen und freut sich trotzdem über das gelungene Bild aus der ersten Reihe. Abgesehen davon bräuchte es eine Menge Polizisten, um alle Gaffer zu überführen. Diese Kapazität könnte viel sinnvoller genutzt werden.
Woran denken Sie?
Man müsste eine Metaebene schaffen, um all den kleinen Egomanen ihr pietätloses Verhalten vor Augen zu führen. Beispielsweise könnte einer der Einsatzkräfte sein Smartphone zücken, die Gaffer beim Gaffen begaffen und damit drohen, die Bilder zu veröffentlichen. Das gäbe einen Aufschrei der Entrüstung, aber sicherlich auch den Effekt der Selbstreflexion.
Das könnte aber auch viel Ärger geben.
Eine andere, etwas sanftere Art wäre, die Gaffer zu Verbündeten zu machen. Man könnte ein paar kräftigeren Männern etwas Trassenband in die Hand drücken und sie bitten, für Platz zu sorgen. Bei Feldversuchen mit der Bereitschaftspolizei in Schleswig-Holstein hat sich gezeigt, dass die Leute im Grunde helfen wollen, aber oft nicht wissen wie oder Angst davor haben, sich falsch zu verhalten oder zu blamieren. Durch Kooperationsformen werden die Leute eingebunden – und verstehen automatisch, dass es um Menschenleben geht.
Ist der Aufwand nicht zu groß? Die Polizei führt gerne an, dass sie für den Umgang mit Gaffern keine Kapazitäten hat, wenn es um Leben und Tod geht.
Nach empirischen Studien besteht an Unfallorten meist eine Überversorgung an Einsatzkräften. Das bezieht sich nicht auf die ersten Minuten nach einem Ereignis. In diesem Zeitraum hält sich die Zahl der Gaffer aber ja auch noch in Grenzen.
Bei dem jüngsten Unfall bei Lorch im Ostalbkreis filmten die Menschen von einer Brücke aus. Die Polizei versuchte drei Mal, die Brücke zu räumen. Was hätten Sie der Polizei geraten?
Das klingt nach Obrigkeitsstaat und viel Aufwand. Wenn gefilmt wird, kann doch die Polizei durch die Reihen gehen und das Lieblingsspielzeug der Deutschen beschlagnahmen.
Das hätte sicherlich einigen Tumult gegeben.
Die Polizei sollte sich vor Tumult eigentlich nicht fürchten.