Die Mixed Martial Arts gelten als härtester Kampfsportart der Welt. Vier Jahre lang durften keine Kämpfe im Fernsehen gezeigt werden. Foto: welovemma/Nazariy Kryvosheyev

Judith Ruis prügelt in ihrer Freizeit auf Frauen ein – professionell. Sie nähert sich der Weltspitze der Mixed Martial Arts an. Die Kämpferin lebt gutbürgerlich in Schönaich und wirkt außerhalb der Arena nicht aggressiver als eine Kunstturnerin.

Schönaich - Es sind die Schlusssekunden, die diese Sportart in Verruf bringen. Die Kämpferinnen wälzen sich am Boden. Judith Ruis schnürt der Weltmeisterin Cinja Kiefer mit einem beidarmigen Würgegriff die Luft ab. Die Gegenwehr sind Faustschläge aufs Auge, wirkungslose Treffer, weil über den Kopf nach hinten geschlagen. Kiefer klopft auf den Boden, sie gibt auf, bevor der Sauerstoffmangel ihr Bewusstsein tilgt.

Dies ist eine der harmloseren Szenen der Mixed Martial Arts (MMA), die MMA-Kämpfer als eine der härtesten Kampfsportart der Welt bezeichnen. Bei den Männern, bei denen mehr Wucht in den Schlägen steckt, wirken jene Schlusssekunden oft genug, als wolle ein Straßenschläger seinen am Boden liegenden Gegner töten – bis der Ringrichter sich dazwischenwirft. Häufig sind beide Kämpfer blutüberströmt. Von 2010 bis 2014 war die Ausstrahlung der Kämpfe im Fernsehen verboten. Inzwischen sind die Regeln verschärft worden oder: vermenschlicht.

Eine Europameisterschaft ist in den MMA eine zweitklassige Weihe

„Ich bin eigentlich introvertiert und schüchtern“, sagt Ruis. Erst ihre Kampferfolge hätten sie zu der Frau gemacht, die sich im Interview vor der Fernsehkamera nicht mehr verhaspelt. Ruis trinkt ihren Kaffee schwarz. In der Gewichtsklasse über 70 Kilo waren ihr die Gegnerinnen ausgegangen. Jetzt wiegt sie um die 65, die Grenze von Bantam- zum Federgewicht. 2014 hatte sie sich den Titel der Europameisterin erkämpft. In den MMA sind solche Erfolge zweitklassige Weihen. Es sind erst Einladungen der renommierten Verbände, die eine Kämpferin adeln.

Nachdem Ruis 2019 die Weltmeisterin und Iryna Godynets besiegt hatte, die Vollprofi ist, wurde Bellator auf sie aufmerksam. Der Name stammt vom lateinischen Wort für Krieger. Der weltweit zweitgrößte Veranstalter lud sie zu Kämpfen nach Irland ein. Im Februar fliegt sie. „Da verdient man dann schon etwas“, sagt Ruis. „Man kann vom Geld für Profikämpfe leben, aber schwer“. Zuletzt musste sie allein 500 Euro für ärztliche Untersuchungen bezahlen, die Augen, das Gehirn, das Blut, alles wurde gecheckt. Ruis kämpft als Profi, lebt aber nicht vom Sport, sondern von ihrem Verdienst als Leiterin eines Böblinger Einkaufsmarkts. Sie trainiert täglich nach der Arbeit. Kunden könnten den Verdacht hegen, dass die junge Frau, die Waren sortiert, misshandelt wird. Ein blaues Auge zählt naturgemäß zu den Nebenwirkungen ihres Sports. Ernsthaft verletzt war sie nur einmal. Ein Tritt brach ihr den Knochen der Augenhöhle. „Aber ich glaube, dass Ballsportarten verletzungsträchtiger sind“, sagt sie.

Als Foul gilt letztlich nur, was tödlich enden könnte

In den MMA gilt letztlich nur als Foul, was tödlich enden könnte: Schläge gegen den Kehlkopf, Fingerstiche ins Auge, Tritte gegen den Kopf von Gegnern, die am Boden liegen. Das war in den Anfängen anders. Schläge ins Gesicht von im Grunde Wehrlosen sind noch immer erlaubt, und die Kämpfer kennen keine Gnade. Dem Regelwerk gemäß muss der Ringrichter abbrechen, sobald einer von ihnen zu angeschlagen ist, um sich bewusst zu verteidigen – angezählt, würden Boxer es nennen. Deren Sport birgt tatsächlich höhere Gefahren. Dies belegt eine Sterblichkeits-Statistik. Tödliche Niederschläge waren in der Geschichte des Boxens um ein Vielfaches häufiger.

Judith Ruis lebt in Schönaich, „gutbürgerlich, ja, mit Kehrwoche und allem“. Bei solchen Sätzen lacht sie. Der einzige Unterschied zu ihren Nachbarn ist, dass sie mit einer Frau verheiratet ist. Im Café in Böblingen fällt die Kämpferin allenfalls aufmerksamen Beobachtern auf, weil auch der Pullover die Muskulatur ihrer Oberarme nicht verbirgt. Sie wirkt nicht aggressiver als eine Kunstturnerin. Noch jeder, der von ihrem Sport erfahren habe, „war sehr überrascht“. Im Kampfkäfig helfe ihr Ruhe und Besonnenheit ohnehin mehr als Aggression, „aber Rücksicht kann sich unter den Profis keiner leisten“: Die Gegnerin kennt auch keine. Eben dies fasziniert die Fans des Sports – und stößt umgekehrt seine Gegner ab. Selbst Ruis’ Frau schätzt die MMA nicht sonderlich. Ihre Kämpfe besucht sie trotzdem.