Sammelklagen gegen Aktenberge: Verfahren könnten gebündelt werden. Foto: dpa, StZ

Sammelklagen gibt es in Deutschland nicht. Dabei zeigt nicht nur der Diesel-Skandal, dass dies ein wirksames Mittel für den Verbraucherschutz sein könnte. Auch bei kleinen Schäden könnte diese Art der Rechtsdurchsetzung hilfreich sein.

Stuttgart - In der Wirtschaft spricht man längst von der Industrie 4.0, der Verzahnung von industrieller Produktion mit moderner Informations- und Kommunikationstechnik. Die Justiz ist hingegen bei der Rechtsprechung 1.0 stehen geblieben. Unternehmen werfen massenhaft massenkompatible Produkte auf den Markt. Weisen diese Mängel auf, können die Verbraucher nicht gemeinsam dagegen klagen, sondern müssen sich in der Regel als Einzelkämpfer wehren.

Der Dieselskandal hat das einmal mehr deutlich gemacht. Während in den USA Sammelklagen gegen die Autohersteller in Gang gesetzt werden, müssen nach dem deutschen Recht alle Kläger ihre eigene Betroffenheit vor Gericht darlegen – und einen Zusammenhang zwischen Ursache und Schaden nachweisen. Das ist mit ein Grund dafür, dass die Dieselbesitzer in den USA von VW großzügig entschädigt werden, aber in Deutschland nicht. Die meisten Rechtswissenschaftler sehen inzwischen die Notwendigkeit, Sammelklagen auch hierzulande einzuführen. Allerdings gilt es, dabei schlechte Erfahrungen aus den USA nicht mit zu übernehmen.

US-Anwälte können an Sammelklagen viel verdienen

Dass die Chancengleichheit zwischen Verbrauchern und Unternehmern nicht gegeben ist, hatte man in den USA schon vor 50 Jahren erkannt. Damals wurden die gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine Sammelklage geschaffen, seitdem hat das Instrument vielen Menschen geholfen. Ehemaligen NS-Zwangsarbeitern ebenso wie den Opfern, die durch die Havarie der BP-Ölbohrinsel Deepwater Horizon ihre Lebensgrundlage verloren haben. Das Besondere bei der Sammelklage nach US-Vorbild: Der Einzelne muss lediglich nachweisen, dass er zu der betroffenen Gruppe gehört, die vor Gericht zieht.In den vergangenen Jahren sind jedoch die Bedenken gegenüber der Sammelklage gewachsen. Niemand bringt die Kritik so schön auf den Punkt wie der Erfolgsautor John Grisham. In seinem Bestseller „Die Schuld“ lässt Grisham den Leser in die Gedankenwelt des Anwalts Clay Carter eintauchen. Der ist durch Sammelklagen reich geworden und fragt sich nun, welcher Privatjet wohl am besten zu ihm passe. Im US-amerikanischen Rechtssystem finanzieren die Anwälte eine solche Klage vor – und werden dann im Erfolgsfall an der Entschädigungssumme beteiligt. Manch ein findiger Advokat verdient da deutlich mehr als seine Mandanten.

Und manch ein Unternehmen bezahlt lieber, als einen langen und teuren Rechtsstreit zu führen – selbst dann, wenn die Erfolgschancen im Falle eines Prozesses gar nicht schlecht wären. Mehr als 90 Prozent aller Sammelklagen in den USA werden durch einen Vergleich erledigt. Das Unternehmen will so jedes Risiko vermeiden. Im Falle eines Urteils wäre nämlich nicht nur Schadenersatz für die Betroffenen fällig, sondern auch noch eine Art Strafschadenersatz. Der kann ebenfalls schnell eine mehrstellige Millionenhöhe erreichen.

Sammelklage kann bei Kleinstfällen hilfreich sein

Verbraucherrechte zu schützen, ohne dabei die „amerikanischen Verhältnisse“ zu importieren, das wird derzeit in zahlreichen Ländern versucht. Denn die Sammelklagen bieten einen großen Vorteil. Sie können auch da Wirkung zeitigen, wo der Einzelne zwar betrogen wird, aber nicht vor Gericht zieht. Wenn Saftproduzenten konsequent etwas weniger Inhalt in die Flasche laufen lassen als auf dem Etikett angegeben, wenn Joghurthersteller drei bis vier Gramm pro Becher weniger einfüllen, dann ist der Schaden für den Einzelnen so gering, dass sich der Gang vors Gericht nicht lohnen würde. Das Unternehmen, das sich an seinen Kunden mit Tausenden von Euro bereichert, muss kaum Gegenwind befürchten. Klagerechte für Verbraucherschutzverbände gibt es zwar, doch die sind im Detail oft so ausgestaltet, dass sie nicht viel bringen. Ein Zusammenschluss von Kunden, die Schadenersatz fordern, könnte bei diesen Kleinstfällen deshalb hilfreich sein. Deutschland hat in jüngster Vergangenheit einen Mittelweg gewählt. Die große Koalition hat das Konstrukt einer Musterfeststellungsklage entwickelt, diese aber wegen interner Meinungsunterschiede vor der Wahl nicht mehr auf den Weg gebracht. In ihren Details ist die Musterfeststellungsklage hoch komplex. Grob betrachtet funktioniert sie so: In einem Musterprozess wird festgestellt, dass ein schädigendes Ereignis vorliegt. Darauf darf sich dann jeder berufen, der sich zuvor gegen eine kleine Gebühr (man denkt an zehn Euro) in ein spezielles Register hat eintragen lassen. Seine eigene Entschädigung muss jeder in einem eigenen Prozess erstreiten.

Ob eine neue Bundesregierung den vom ehemaligen SPD-Justizminister verfassten Entwurf weiter verfolgt, ist unklar. Die Grünen sind der Idee nicht abgeneigt, Union und FDP äußern sich zurückhaltender. Unumstritten ist der Entwurf nicht. Bisher gibt es eine sehr ähnliche Klageform nur für Kapitalanleger. 16 000 Telekom-Aktionäre gehen gegen den Bonner Konzern vor, weil der bei seinem dritten Börsengang im Jahr 2000 falsche Angaben in den Werbeprospekten gemacht haben soll. Der Prozess vor dem Oberlandesgericht Frankfurt/Main läuft seit dem Frühjahr 2008 – also seit knapp zehn Jahren. Der erste Musterprozess wohlgemerkt, die Einzelklagen müssen dann erst noch folgen.