Die Zahl der gewaltbereiten Minderjährigen nimmt immer her zu. Die Jugend wird immer gewalttätiger. Weit verbreitete Meinungen in der Bevölkerung. Doch stimmt das überhaupt? Ein Faktencheck. Foto: yupachingping/stock.adobe.com

Die mutmaßlichen sexuellen Übergriffe durch eine Bande von Kindern im nordrhein-westfälischen Mülheim lösen viele Fragen aus. Politiker und Psychologen suchen Antworten.

Mülheim/Stuttgart - In Mülheim an der Ruhr (Nordrhein-Westfalen) sollen fünf Täter eine junge Frau vergewaltigt haben, die selbst erst zwischen zwölf und 14 Jahre alt sind. Das hat eine Diskussion um die Senkung der Strafmündigkeit entfacht.

Wir erklären Rechtslage und Hintergründe – und was Politiker dazu meinen. Psychologen machen sich unterdessen Gedanken über die Hintergründe sexualisierter Gewalt.

Wie ist die jüngste Entwicklung?

Der inhaftierte 14-Jährige im Fall der mutmaßlichen Vergewaltigung in Mülheim an der Ruhr hat laut Stadtverwaltung schon länger an einer Präventivmaßnahme teilgenommen. Der Tatverdächtige befinde sich in der Maßnahme „Kurve kriegen“, „um ihn aus dem Strudel einer Intensivtäterschaft herauszuholen“, sagt Stadtsprecher Volker Wiebels. Eine Betreuung der Familie des in Haft sitzenden Jugendlichen sei schon 2018 eingeleitet worden.

Was tun die Familien der Verdächtigen?

Das Jugendamt habe nun Kontakt zu allen Familien der fünf Tatverdächtigen, heißt es. Am Montag wurde der Kontakt zum Teil abgelehnt. „Teilweise hat man gemerkt, dass die Erziehungsberechtigten sogar ganz froh waren, dass jetzt professionelle Hilfe kommt“, sagt der Stadtsprecher. Er betont, dass auch eine intensive Betreuung des Opfers und dessen Familie gewährleistet sei.

Wie ist die Rechtslage?

In Deutschland beginnt die strafrechtliche Verantwortlichkeit mit der Vollendung des 14. Lebensjahres. Kinder unter 14 Jahren sind schuldunfähig und können nicht vor Gericht bestraft werden. Deutschland liegt damit im Rahmen dessen, was die Vereinten Nationen empfehlen.

Für Jugendliche gilt das Jugendgerichtsgesetz ohne Einschränkung. Es definiert keine eigenen Tatbestände, regelt die Rechtsfolgen aber anders, als im Erwachsenenstrafrecht. Im Mittelpunkt steht der Erziehungsgedanke. Neben klassischen Strafen gibt es eine Vielzahl von Zuchtmitteln, um Besserung zu erreichen.

Was sagen Politiker zum Thema Senkung des Strafmündigkeitsalters?

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) ist gegen eine Senkung des Strafmündigkeitsalters: „Strafrechtliche Verantwortung setzt einen bestimmten Entwicklungsstand voraus, der bei Kindern unter 14 Jahren regelmäßig nicht gegeben ist.“

Der baden-württembergische Justizminister Guido Wolf (CDU) dagegen sagt: „Ich finde schon, dass man die Debatte über Änderungen bei den Regelungen zur Strafmündigkeit führen kann. Einfach nur zu sagen, das geltende Recht sieht ausreichende Sanktionsmöglichkeiten vor, da macht man es sich zu einfach. Aus meiner Sicht braucht es eine offene und ausführliche Debatte, ob die bestehenden Reaktionsmöglichkeiten im Strafrecht, aber auch für die Jugendämter ausreichend sind“, sagte Wolf.

Ist das Gesetz noch zeitgemäß?

Die jetzige Altersgrenze stammt aus dem Jahr 1923. Darauf weist Justizminister Wolf hin. Seitdem habe sich die Lebenswirklichkeit in der Gesellschaft erheblich verändert. „Jugendliche wachsen unter ganz anderen gesellschaftlichen Bedingungen auf und sind – so zumindest meine häufige Wahrnehmung im Alltag – deutlich früher selbstständig.“

Darauf hebt auch der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) ab: „Ein 14-Jähriger des Jahres 2019 ist ein anderer, als ein 14-Jähriger des Jahres 1960. Da hat sich in den vergangenen Jahrzehnten viel verändert.“ Entscheidend müsse sein: „Ab welchem Alter ist sich jemand der Folgen seines Tuns und Lassens so bewusst, dass er dafür die die strafrechtliche Verantwortung übernehmen muss.“

Strobl weiter: „Hier helfen keine Schnellschüsse aufgrund eines – in der Tat furchtbaren – Einzelfalls, darüber müssen wir eine breite Diskussion unter Einbeziehung aller relevanten Akteure führen.“

Wie kann es zu einem solchen Ausbruch von sexueller Gewalt kommen?

Fachleute sehen bei Gruppenvergewaltigungen eine gefährliche Kombination von Sexualität, Machtdemonstration und Gruppendynamik am Werk. „Gerade bei Jugendlichen in Gruppen steigt die Bereitschaft für Grenzüberschreitungen“, erklärt Thomas Bliesener, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen.

Es gebe Anführer, Mitläufer, die zu feige seien, einzuschreiten, und Mittäter, die ihre Position in der Gruppe aufwerten wollten, erläutert der Kriminalpsychologe Rudolf Egg. „Je größer die Gruppe, desto unwahrscheinlicher ist es, dass einer Stopp sagt.“

Stattdessen steigere sich der Tatrausch, erläutert Christian Lüdke, Psychotherapeut und Experte für Täterverhalten aus Essen. „Es kann sogar sein, dass sich ein Wettkampf entwickelt, in dem jeder der härteste sein will.“

Wie häufig sind sexuell motivierte Straftaten durch Kinder und Jugendliche?

Laut Kriminalstatistik, in der alle angezeigten Straftaten erfasst werden, sind Heranwachsende bei rund einem Fünftel aller angezeigten Sexualstraftaten Tatverdächtige.

Nach Aussage von der Münchner Pädagogin Elke Schmidt stellen männliche Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren eine Hochrisikogruppe dar. Sie seien als Tatverdächtige bei Sexualdelikten im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Bevölkerung überproportional vertreten.

Welchen Einfluss hat Pornografie aus dem Netz auf das Verhalten?

Die sexuellen Vorstellungen vieler Jugendlichen seien besonders durch das massenhaft verbreitete pornografische Material im Internet geprägt, erklärt Lüdke. Experten zufolge suggerieren Pornofilme, dass Männer automatisch Macht über Frauen hätten und sie sich eine Frau einfach nehmen können. Kinder könnten aber kaum unterscheiden zwischen Fiktion und Wirklichkeit.

Werden Taten wie diese häufiger?

Sexualdelikte, in denen mehrere Männer über Frauen herfallen, beschäftigen Polizei und Staatsanwaltschaft in Deutschland laut Polizeilicher Kriminalstatistik seit Jahren auf stets ähnlichem Niveau. „So etwas hat es auch in der Vergangenheit schon gegeben, heute werden solche Verbrechen jedoch stärker wahrgenommen“, betont der Kriminalpsychologe Egg.