Jürgen Kessing gibt sich kämpferisch. Foto: factum/Weise

Der Bietigheim-Bissinger Oberbürgermeister Jürgen Kessing spricht im Interview über seine Alkoholfahrt, den Streit mit Ludwigsburg und die Flüchtlingskrise. An seiner Bewerbung als Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands will der 60-Jährige festhalten.

Bietigheim-Bissingen - Es liegen turbulente Wochen hinter Jürgen Kessing. Im Juni war der Bietigheim-Bissinger Oberbürgermeister mit 1,1 Promille Alkohol im Blut in eine Polizeikontrolle geraten – der 60-Jährige musste eine Geldstrafe zahlen und den Führerschein abgeben. Auch seine Bewerbung als Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands wurde kritisiert. Im Interview erklärt Kessing, warum er trotzdem optimistisch in die Zukunft blickt.

Herr Kessing, über Ihre Alkoholfahrt wurde viel geredet und geschrieben. Mit etwas Abstand: wie blicken Sie heute auf die Affäre?
Es ist passiert, ich trage meine Strafe. Und ich bin dankbar für die Unterstützung aus der Bevölkerung. Viele haben mir Trost gespendet, weil sie der Meinung sind, dass ich schlecht behandelt wurde.
Inwiefern?
Es wurden Dinge an die Medien durchgestochen, die nicht durchgestochen werden sollten. Ich wollte das Ganze nach Abschluss des Verfahrens selbst öffentlich machen, aber die Chance hatte ich nicht.
Wenn ein OB mit 1,1 Promille am Steuer erwischt wird, ist das ein Thema, von dem die Menschen erfahren dürfen. Oder nicht?
Die Berichterstattung kam mir vor wie eine Hetzjagd. Die Art und Weise war nicht okay.
Kritisiert wurden Sie, weil Sie sich nur zaghaft entschuldigt haben.
Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich einen Fehler begangen habe. Und so etwas wird auch nicht mehr vorkommen.
Sie wollen Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands werden. Gefährdet die Alkoholfahrt Ihre Pläne?
Ich habe das gegenüber dem Verband offen kommuniziert. Man hat mich gebeten, die Bewerbung nicht zurückzuziehen. Das ist der Stand der Dinge.
Sie wollten auch schon einmal Präsident des VfB Stuttgart werden.
Moment, ich wollte nicht VfB-Präsident werden, ich bin gefragt worden.
Trotzdem: sind Sie nicht ausgelastet?
Es gibt Positionen, bei denen mein Name immer mal ins Spiel gebracht wird, das kann ich nicht verhindern. Das ist ein Ehrenamt. Es gibt im Verband einen hauptamtlichen Apparat, der hervorragende Arbeit leistet. Ich gehe davon aus, dass sich das gut vereinbaren lässt.
Die FDP forderte, als Ihre Bewerbung publik wurde, sie sollten als OB zurücktreten.
Wäre ich FDP-Mitglied, wäre das wohl nicht passiert.
Ärgert sie das?
Nein. Ich kenne meine Pappenheimer.
Themenwechsel. Bietigheim-Bissingen ist eine reiche Kommune. Wo sehen Sie die größte Herausforderung der nächsten Jahre?
Reich – das kommt in unserem Wortschatz nicht vor. Wir kommen gut über die Runden, aber wir machen nur das, was wir uns leisten können. Wir haben bei allen unseren Investitionen die Folgekosten im Blick.
Wie stark schränkt es Sie ein, dass Porsche beziehungsweise Volkswagen nun deutlich weniger Gewerbesteuer zahlen?
Es ist weniger geworden, weil jetzt ein Großteil des Geldes nach Wolfsburg fließt. Aber Volkswagen zahlt noch etwas, und das ist besser als nichts.
Die Rücklagen der Stadt schmelzen.
Rücklagen sind ja dazu da, Schwankungen bei den Einnahmen auszugleichen und Investitionen zu ermöglichen. Das tun wir. Wir nehmen die Überschüsse, um sie im Bereich Bildung einzusetzen. Allein die Sanierung unserer Schulen kostet in Summe rund 50 Millionen Euro.
Neben den Schulen: was ist derzeit das wichtigste Projekt der Stadt?
Die Umgestaltung des ehemaligen DLW-Areals am Bahnhof in ein Gebiet zum Wohnen, Arbeiten, Einkaufen. Diese achteinhalb Hektar wollen wir so entwickeln, dass hinterher möglichst alle sagen können, dass es gut gelungen ist.
In Ludwigsburg soll das Breuningerland erweitert werden. Sie haben die Nachbarstadt deswegen ungewöhnlich scharf attackiert. Hat sich der Ärger gelegt?
Sie können davon ausgehen, dass wir nicht jubeln, denn dieses Vorhaben gefährdet unseren Einzelhandel, der sowieso, wie überall, ums Überleben kämpft.
Sie haben mit Klage gedroht – gilt das noch?
Noch ist nichts passiert – es gibt bislang nur eine Absichtserklärung von Breuninger. Übrigens sind nicht nur wir besorgt, sondern auch andere Kommunen. In Tamm ist der Einzelhandel praktisch schon tot.
Welche Chancen rechnen Sie sich aus, die Erweiterung zu verhindern?
Das werden wir sehen. Aber man muss uns schon zugestehen, dass wir alle Möglichkeiten, die uns der Rechtsstaat einräumt, ausschöpfen.
Wie würden Sie Ihr Verhältnis zum Ludwigsburger OB Werner Spec beschreiben?
Nachbarschaftlich. Ich kann ihm nicht vorwerfen, was er in Sachen Breuninger tut, vielleicht würde ich an seiner Stelle das Gleiche machen. Aber ich habe eine andere Rolle zu spielen.
Spec versucht gerade, seine städtische Wohnungsbaugesellschaft zu stärken, und liegt deswegen im Clinch mit den privaten Bauträgern. Diese fürchten Verhältnisse wie in Bietigheim-Bissingen, wo die städtische Wohnbau extrem mächtig ist.
Unsere Gesellschaft ist am Markt unterwegs wie alle anderen. Bei uns sind viele Bauträger, die ihr Leid wegen der Situation in Ludwigsburg klagen, sehr erfolgreich.
Die steigenden Mieten und Immobilienpreise belasten viele Menschen. Gelingt es Ihnen, mit Ihrer expansiven Wohnungspolitik die Preisentwicklung einzudämmen?
Ein bisschen schon, denn wir sind nicht in dem Maß auf Gewinnmaximierung gepolt. Inzwischen haben schon Familien mit normalem Einkommen, Facharbeiter, Polizisten, Schwierigkeiten, Wohnungen zu finden. Wir versuchen gegenzusteuern, aber das allein reicht nicht. Für das Rückgrat der Gesellschaft wurde zu lange nichts getan, Land und Bund hatten sich aus der Förderung zurückgezogen und fangen erst jetzt wieder an, sich darum zu kümmern.
Viel Wirbel haben in Ihrer Stadt die Planungen zum Bau einer Biogasanlage verursacht, die mit einem Bürgerentscheid gestoppt wurden. Für Sie eine persönliche Niederlage?
Wir waren jedenfalls überzeugt von dem Projekt. Man kann nicht über die Energiewende reden, aber Windräder, Solarzellen oder Stromtrassen bekämpfen. Aber der Souverän hat so entschieden, und das akzeptieren wir.
Müssen in einer Demokratie nicht auch unpopuläre Entscheidungen getroffen werden?
Ja. Aber wir haben einen gewissen Sättigungszustand erreicht, die Menschen sind satt und zufrieden, wollen keine Entwicklung mehr. Wenn sich ein Unternehmen ansiedelt, fürchten Anwohner den zusätzlichen Verkehr – obwohl es auch um Arbeitsplätze geht. Diejenigen, die etwas haben, wollen nicht, dass noch jemand dazu kommt. Nach dem Motto: das Boot ist voll.
Werden Sie oft angefeindet?
Wir spüren, dass Menschen sich hemmungsloser und schamloser äußern. Auch unsere Politessen merken das. Oder Erzieherinnen, weil Eltern davon ausgehen, dass ihr Kind ein Einstein ist. Auch bei Bürgergesprächen stelle ich fest: manche Leute fühlen sich immer schlecht behandelt.
Wurden Sie persönlich bedroht?
So etwas kommt vor, ist aber nicht an der Tagesordnung.
Das Flüchtlingsthema hat viel zur Polarisierung in Deutschland beigetragen. Wie ist die Lage – bekommen Sie alle unter?
Weil wir uns bei der Erstaufnahme stark eingebracht haben, können wir jetzt die Anschlussunterbringung etwas entspannter sehen. Die meisten können wir dezentral unterbringen, ja.
Wir beurteilen Sie die aufgeheizte Debatte?
Wir werden das hinkriegen – so wie wir es mit den Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg oder den Balkankriegen hingekriegt haben. Bei einigen wird die Integration schnell gehen, bei anderen länger dauern, und viele werden irgendwann in ihre Heimat zurückkehren. Die Heimat gibt niemand ohne Not auf. Arbeit, Sprache, Wohnen – wenn die Bausteine stimmen, wird die Integration fast zum Selbstläufer. Meine Devise ist: man muss Mensch bleiben.
Das bedeutet?
Wir müssen die Bevölkerung ermuntern, sich einzubringen, es gibt viele kleine Initiativen, das ist bewundernswert. Die ganz hartgesottenen Flüchtlingsgegner kriegt man natürlich nicht, da hilft reden nicht. Aber die große Masse ist anders.
Zum Schluss eine persönliche Frage: Sie sind bis 2020 gewählt. Haben Sie vor, noch einmal anzutreten?
Damit werde ich mich zu gegebener Zeit beschäftigen. Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle, auch gesundheitliche, ich bin immerhin schon 60. Aber der Wunsch, erneut zu kandidieren, wird oft an mich herangetragen, und das ist ja nicht das Schlechteste.

Karriere –
Jürgen Kessing ist 1957 in Worms geboren, 1972 begann er eine Verwaltungsausbildung in Ludwigshafen, wo er bis 1989 arbeitete. Bis 1991 war er stellvertretender Amtsleiter des Rechnungsprüfungsamtes beim Bezirksverband Pfalz, bis 1994 Stadtkämmerer in Kaiserslautern, 1996 wurde er Finanzdezernent und 2001 Bürgermeister in Dessau.

Politik –
2004 wurde Kessing, der Mitglied der SPD ist, als Nachfolger von Manfred List (CDU) zum OB von Bietigheim-Bissingen gewählt, 2012 wiedergewählt. Er ist zudem Vorsitzender der SPD-Fraktion im Kreistag und Mitglied der Regionalversammlung. Er gilt als designierter Nachfolger von Clemens Prokop als Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands.