200 000 Juden sind seit den 1990er Jahren nach Deutschland eingewandert: Einige denken nun über das Auswandern nach. Foto: Getty

Als Michael Groys sieben Jahre alt war, beschloss seine Familie, die Ukraine zu verlassen. Die Wahl fiel auf Deutschland. Aber warum geht das Gefühlt der Fremdheit nie ganz weg? Die Geschichte einer ziemlich komplizierten Liebe

Berlin - Das ist ein Foto so recht nach dem Geschmack von Michael Groys: Zurückgelehnt sitzt der Mann im genieteten Ledersessel, Anzug aus feinem Tuch, selbstgewisses Lächeln, Whisky-Tumbler in der Hand. Fehlen nur zwei weitere Lieblingsaccessoires: eine Zigarre oder eine schöne Frau im Arm. Dann ist die Ansammlung der Klischees vom finanziell erfolgreichen Russen aus Berlin-Charlottenburg perfekt. Michael Groys sammelt gerne Klischees, auch wenn sie nicht stimmen. Lieber macht er das inzwischen selbst, als es die anderen tun zu lassen.

Es gibt da noch ein anderes Bild: ein kleiner Junge steht auf einem Bahnhof, Prinz-Eisenherz-Frisur, schüchterner Blick. Die Jeans so weit, dass Hosenträger sie halten müssen. Ringsum Erwachsene, in den Gesichtern liegt irgendwas wie Erwartung. Einer legt dem Kind die Hände auf die Schultern. „Das war auf dem Fernbahnhof Lichtenberg“, sagt Groys. Gerade hatte der siebenjährige Micha zum ersten Mal deutschen Boden betreten. „Ich wusste nichts über Deutschland.“ Nur eins, das schon: „Mir war klar, wir bleiben jetzt hier.“

Die einfachste Lösung schien Deutschland zu sein

20 Jahre ist das jetzt her. Damals war die Familie aus einem Ort im Donbass aufgebrochen, Ziel: ein neues Leben. „Eigentlich“, sagt Groys, „sind wir nicht eingewandert, sondern ausgewandert. Meine Mutter hat gesagt, hier können wir nicht bleiben. In der Ukraine ist ein Menschenleben nicht viel wert.“ Die Eltern, beide wie fast alle in der Heimatstadt im Bergbau beschäftigt, litten unter der sozial prekären Lage, unter der Kriminalität, der Korruption. Sie suchten nach einer Lösung – Israel war eine, die USA. Die einfachste schien Deutschland zu sein. Denn seit 1991 konnten russische Juden auf Einladung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl als sogenannte Kontingentflüchtlinge einwandern. 220 000 Menschen kamen bis etwa 2005 nach Deutschland. Sie gehören heute zu den rund drei Millionen Deutschen, deren Wurzeln in Russland liegen – eine der größten Einwanderergruppen. Und die stillste.

Einpassen, anpassen, einfügen, alles richtig machen – darum ging es von Anfang an. Zugehörigkeit zu den Bedingungen der anderen. „Meine Eltern haben mir gesagt: Wir sind für dich ausgewandert.“ Besser müsse er sein als die anderen, um was zu werden – ein enormer Druck. Heute kennt er diese Erzählung auch von anderen Einwandererkindern. Aber die Realität war weit weg von allem, was mit Chancengleichheit zu tun hat: „Als ich nach Deutschland kam, hörte ich erst mal nichts anderes als Russisch“, sagt Michael Groys. Monate verbrachte die Familie in brandenburgischen Flüchtlingsunterkünften.

„Es gab und gibt kein Konzept für eine ordentliche Einwanderungspolitik“

Deutschland, das war für den kleinen Jungen der Zigarettenautomat, den er zum ersten Mal sah, das waren Leute, die man „Hunter“ nannte – Jäger, die einem gegen Geld Jobs besorgten, eine Wohnung, Kontakte. Die Mutter bekam eine Stelle im Pflegedienst, der Vater auf dem Großmarkt für Obst und Gemüse, die Familie durfte irgendwann nach Berlin ziehen. Der Junge, gerade in Brandenburg von einer auf die andere Grundschule gewechselt, musste sich neu eingewöhnen, zum dritten Mal.

Heute sieht Michael Groys diese Zeit als ein Beispiel politischen Versagens: „Es gab und gibt kein Konzept für eine ordentliche Einwanderungspolitik“, sagt er. Hunderttausende Menschen seien gekommen, Menschen mit Potenzial, mit Bildung. „Einerseits wurden Millionen mit Sprachkursen verballert, während man die Menschen zusammen kasernierte. Andererseits ließ man den Professor Klos putzen und den Ingenieur Taxi fahren. Es gab kein Interesse.“ Das Land habe Ressourcen verschwendet. Für viele Neuankömmlinge wurde das Einwandern zur Geschichte einer Kränkung. Die Eltern, fleißige Menschen, waren immer wieder ohne Arbeit, das Geld war knapp, der Rückzug in eine russische Parallelgesellschaft naheliegend.

Drei der vier Großeltern von Michael Groys sind Überlebende des Holocaust

Der Sohn spürte derweil Heimatlosigkeit: „Ich habe lange gar nicht gewusst: was soll ich hier, was ist das für ein Land hier, wo habe ich meinen Platz?“ Einsame Jahre waren das. Irgendwann nahmen die Eltern den Jungen von der Schule und schickten ihn auf das Jüdische Gymnasium. „Eigentlich fing da erst mein soziales Leben an. Es war eine Art Umbruch in meinem Kopf.“ Zum ersten Mal nach Jahren in der Fremde fühlte Michael Groys sich angenommen, ernst genommen, wahrgenommen. Dabei half ein Stipendium einer Stiftung mit Reisen, Seminaren, Vorträgen. „Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, jemand könnte mich hier brauchen.“ Ungerecht findet er, dass so wenige Einwandererkinder solche Chancen haben. Bildung und die jüdische Religion waren es, die dem Jugendlichen halfen, eine eigene, schützende Identität zu finden: „Ich lernte Hebräisch, fand Freunde, fühlte mich auf diese Art im Judentum zu Hause.“ Erst später wurde daraus ein wirklicher Glaube. „Der stärkt mich und gibt mir oft Ruhe.“

Seine eigene Familie war nicht religiös. Das Jüdischsein hatte vor der Auswanderung vor allem in einem Punkt eine Rolle gespielt – nämlich bei der Frage: Wie geht das, ausgerechnet im Land der Täter ein neues Zuhause zu suchen? Drei der vier Großeltern von Michael Groys sind Überlebende des Holocausts, in der weiteren Familie fielen mindestens 30 Menschen dem Vernichtungswillen der Nationalsozialisten – also der Deutschen – zum Opfer. Als Junge sprach er viel mit einem seiner Großväter, der im Ghetto überlebt hatte.

Gibt es eine Zukunft für Juden in Deutschland?

Nun also das Zuhause Deutschland. In einer Zeit, in der Antisemitismus ungezügelter als lange Zeit und von mehreren Seiten zugleich auftritt, in der eine Partei Erfolg hat, deren Vertreter vom „Denkmal der Schande“ sprechen und vom Nationalsozialismus als „Vogelschiss“. Da hört Michael Groys manchmal die Frage, ob es eine Zukunft für Juden in Deutschland gibt. „So sicher wie noch vor fünf Jahren kann ich das nicht beantworten.“ Auch in seiner Umgebung gibt es Gespräche, die vom Auswandern aus dem Land handeln, in das er vor 20 Jahren eingewandert ist.

Für Groys eine undenkbare Idee. Wer ihm begegnet, der merkt schnell, dass ihm zwei Dinge wichtig sind: einerseits das Angekommensein. Andererseits aber will er nicht irgendwem die Deutungshoheit darüber überlassen, was Ankommen bedeutet. 27 Jahre ist er alt, gerade hat er seinen Master in Politik- und Verwaltungswissenschaften gemacht, im Büro eines Landtagsabgeordneten gearbeitet, engagiert sich in der Berliner SPD, in der Jüdischen Gemeinde. „Berufspolitiker werden, das ist mein Traum.“ Warum? „Weil die Dinge nicht so bleiben können, und weil ich ein feines Gespür dafür habe, was soziale Gerechtigkeit bedeutet.“ Ein Vorbild hat er auch: „Gerhard Schröder, der steht für mich für die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, seine Mutter war Putzfrau.“

„Die Leute putzen lieber Stolpersteine“

Groys sagt, er sei heimisch geworden, identifiziere sich mit diesem Land. Und er wolle ihm am liebsten dienen. Aber da bleibt die große Frage: Wie ist das umgekehrt? Beim Wort Integration verabschiedet sich das Lächeln aus Groys’ Gesicht. „Integration bedeutet, dass beide Seiten aufeinander zugehen müssen. Die Erwartung ist aber nur die, dass lediglich Neuankömmlinge sich integrieren sollen.“ Umgekehrt erlebt er vor allem Desinteresse. Was Jüdischsein in Deutschland heute bedeute, das interessiere wenige Menschen. „Die Leute putzen lieber Stolpersteine.“ Er wolle nicht pessimistisch klingen, sagt Groys. Aber manchmal, da fühle sich sein Leben ein wenig an wie eine einseitige Liebe. Und wenn er sich dann fragt, was er sei, dann ist die Antwort kompliziert: „Ein ukrainischer Jude mit deutschem Pass.“