Ekstase pur nach dem Titelgewinn bei der WM 2007: Michael Kraus (2. v. li.) und Johanns Bitter (hinter Kraus) feiern mit Heiner-Brand-Bärten und goldenen Pappkronen bei der Siegerehrung in Köln. Foto: dpa

Die beiden Weltmeister vom TVB Stuttgart wünschen sich von der am Donnerstag beginnenden Heim-WM einen nachhaltigeren Effekt für den Handball, als dies 2007 der Fall war. Wie das gelingen kann, verraten im Interview Johannes Bitter und Michael Kraus, der zudem Kritik am Bundestrainer übt.

Stuttgart - Mit dem Eröffnungsspiel Deutschland gegen Korea startet an diesem Donnerstag in Berlin (18.15 Uhr/ZDF) die Handball-WM. Die Weltmeister Johannes „Jogi“ Bitter (36) und Michael „Mimi“ Kraus (35) erinnern sich an das Wintermärchen 2007 und blicken voraus.

Meine Herren, was schießt Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an den 4. Februar 2007 denken?

Kraus: Das Fahnenmeer, der Konfettiregen, die goldenen Kronen, die angeklebten Heiner-Brand-Schnauzbärte mit denen es zur Siegerehrung ging und natürlich der Feier-Marathon nach dem Gewinn des WM-Titels. Bitter: Diese riesige Begeisterung war ja schon greifbar, als wir am Finaltag mit dem Bus die 40 Kilometer vom Hotel in die Köln-Arena fuhren. Alles war in Schwarz-Rot-Gold getaucht. Kraus: Und dann war da dieser Heißluftballon am Straßenrand. Als wir vorbeifuhren, zog der Mann an der Schnur, die Flammen stiegen auf. Bitter: Ich saß immer vorne links im Bus, und in diesem Moment konnte ich die brutale Hitze des Feuers durch die Scheibe fühlen. Kraus: Wir waren regelrecht on fire.

Und sicher, das Finale zu gewinnen?

Kraus: Nach dem Halbfinalsieg war ich total überzeugt: Jetzt rocken wir das Ding! Bitter: Die stärksten Gegner hatten wir im Viertelfinale und im Halbfinale mit Spanien und Frankreich schon geschlagen, und mir war klar, dass wir nicht zweimal gegen Polen verlieren (Anm.d.Red.: In der Vorrunde hatte es ein 25:27 gegeben, im Finale ein 29:24).

Was war entscheidend für den Titel?

Bitter: Der Dämpfer gegen Polen war vielleicht gar nicht schlecht. Danach waren wir fokussierter. Kraus: Ich glaube aber auch, dass die Pizza-Affäre ein Schlüssel zum Titel war.

Pizza-Affäre? Haben Sie zur Spielvorbereitung eine Pizza bestellt?

Kraus: (lacht). Nein, nein. Ich weiß gar nicht mehr, wer es war. Jedenfalls hat einer aus der Mannschaft an einem Abend gefragt, wer Pizza möchte. Da hab auch ich gesagt: Klar, Pizza Hawaii, auf geht’s. Bitter: Keiner hat sich groß was dabei gedacht, ich dachte, das sei abgesprochen.

War’s aber nicht. Und Heiner Brand verlor seine oberbergische Gelassenheit?

Kraus: Oh ja. Der Bundestrainer hat uns am Morgen danach ordentlich zusammengefaltet. Er sagte, die Isländer kämpfen wie die Schweine und wir? Wir futtern Pizza! Die Standpauke hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Wir haben im Spiel danach die Slowenen weggeputzt, bekamen einen Lauf . . .

. . .und waren am Ende Weltmeister. Welchen Ehrenplatz hat Ihr WM-Trikot?

Bitter: Bei mir lagert es im Keller meiner Eltern. Kraus: Ich habe es bei mir zu Hause auch im Keller neben meinen Schuhen vom Finale, da klebt immer noch goldenes Lametta dran. Ich habe sogar noch die Socken. An einem war auf Höhe des Sprunggelenks ein Loch drin, den habe ich aus Aberglauben immer wieder angezogen. Der hat am Ende gestunken, das war nicht mehr feierlich (lacht laut).

Was war der ausgefallenste Fan-Wunsch?

Kraus: Es wurde damals schon mal angefragt, ob meine Unterhose zu haben sei. Bitter: Da ist manches vielleicht nicht ganz jugendfrei, aber auf einer nackten Brust sollte ich auch mal unterschreiben. Kraus: Ach ja, nach der WM wurde auf Ebay die Klobrille meiner ehemaligen Wohnung versteigert. Ich habe meinen Bruder gebeten, es aus dem Netz nehmen. Es waren schon sechs Gebote drauf (lacht wieder laut).

Der Wahnsinns-Hype um die Mannschaft konnte danach nicht nachhaltig für den Handball genutzt werden. Warum?

Bitter: Sie sagen es: Der Hype um die Mannschaft. Es wurde nicht verstanden, die Persönlichkeiten der einzelnen Spieler in den Vordergrund zu stellen und zu nutzen. Das wäre viel nachhaltiger gewesen. Denn die Kids sagen doch nicht, der Deutsche Handball-Bund ist supergeil, die sagen der Spieler xy ist supergeil. Kraus: Da hat Jogi absolut recht. Nur Stars erzeugen einen Handball-Hype. Warum rennen die Jungs mit einem Juventus-Turin-Trikot rum? Doch nicht wegen des Clubs, sondern weil Ronaldo dort kickt. Die Kids lechzen nach Typen, nach Stars, nach Vorbildern. Und diesbezüglich fehlte damals ein schlüssiges Konzept, eine Kampagne.

Social Media würde heute vieles erleichtern?

Kraus: Damals gab es StudiVz und das war’s. Klar wäre das heute komplett anders. Facebook, vor allem Instagram und Snapchat – die jungen Leute saugen doch alles auf. Bitter: Aber du musst diese Persönlichkeiten natürlich auch aufbauen. Und du brauchst die Typen dazu. (Blickt zu Kraus) Nicht jeder ist wie Du bereit, praktisch alles öffentlich preiszugeben. Kraus: Viele Handballer sind langweilig. Das liegt aber auch daran, dass die Berater ihren Spielern mit auf den Weg geben, bloß nicht zu polarisieren. Heraus kommt oft nichtssagender, langweiliger Mainstream.

Und ausgerechnet Sie, Herr Kraus, sind für die WM nicht nominiert. Wie groß ist Ihre Enttäuschung?

Kraus: Enttäuschung hängt ja immer auch von Erwartungen ab. Und nach meinem Handbruch hatte ich keine großen Erwartungen, nominiert zu werden. Aber unabhängig davon, bin ich mir schon sicher, dass ich dem Team hätte helfen können. Bitter: Mimi kann ein Spiel allein entscheiden und präsentierte sich in Topform. Zumindest als Joker hätte er der Mannschaft mit Sicherheit gutgetan.

Sie Herr Bitter, stehen zumindest im erweiterten Kader. Rechnen Sie vielleicht doch noch mit einem Einsatz?

Bitter: Die Absprache mit Christian Prokop ist klar: Wenn bei Andreas Wolff oder Silvio Heinevetter etwas klemmt, ruft mich der Bundestrainer an. Kraus: Also ich verstehe es nicht, dass Jogi nur als „Stand-by-Spieler“ im 28er Kader steht. Und nicht nur mich wundert das. Spieler und Trainer anderer Nationen haben mich gefragt: Warum nominiert Deutschland nicht seine besten Spieler? Auch ich finde, dass nach dem Leistungsprinzip aufgestellt werden sollte. Zumal Jogi auch ein Teamplayer ist. Es ist ja ein offenes Geheimnis, dass Wolff und Heinevetter nicht die besten Kameraden sind.

Die Spannungen zwischen Mannschaft und Bundestrainer sollen ausgeräumt sein. Wenn es nicht sofort rund läuft – droht dann nicht, das Ganze wieder hochzukochen?

Bitter: Eine Heim-WM ist für jeden Spieler das Größte. Da lässt sich vieles ausblenden.

Auch wenn es Misserfolge gibt?

Kraus: Daran will ich lieber nicht denken.

Ist es denn überhaupt realistisch, den Coup von 2007 zu wiederholen?

Bitter: Leicht wird es nicht. Wir hatten 2007 den Vorteil, dass keine Vergleiche angestellt wurden, weil es vorher eben keinen Heim-Titel einer deutschen Mannschaft bei einer WM gab. Das aktuelle Team dagegen wird mit uns 2007ern verglichen. Kraus: Zudem hatten wir bei der EM 2006 in der Schweiz schon ein gutes Turnier gespielt und uns mit Platz fünf etwas Selbstvertrauen geholt. Bitter: Es geht nur über die Emotionen. Das Team muss sich in einen Rausch spielen. Jeder kennt die Bilder von 2007. Zu Hause kannst du dich nach einer schlechten Leistung auch mal aus einem Tief rausziehen. Da tust du dich in einem Turnier in Aserbaidschan schwerer. Egal was passiert, du wirst in kein Motivationsloch fallen. Aber du brauchst Leute, die das lenken, damit du nicht übermotiviert zur Sache gehst.

Gibt’s solche Häuptlinge im Team?

Bitter: Unserem Abwehrchef Finn Lemke traue ich diese Leaderrolle absolut zu.

Jetzt mal Hand aufs Herz: Wie weit kommt Deutschland bei der WM?

Kraus: Halbfinale muss das Ziel sein. Bitter: Der Vorteil bei dem Modus ist: Du kannst zwei oder drei Punkte in der Vor- und Hauptrunde liegen lassen und trotzdem ins Halbfinale kommen. Aber klar: Das Ziel muss das Halbfinale in Hamburg sein. Kraus: Und vielleicht holst Du mit Deutschland ja doch noch mal den Titel. Bitter: Ich rechne nicht mit einem Einsatz, aber im Sport hat man ja schon die verrücktesten Dinge erlebt.