Der Friedenspreisträger Boualem Sansal warnt vor einer religiösen Diktatur. Foto: dpa

Untermalt vom Rumoren rechtspopulistischer Kreise erscheinen in Deutschland zwei Romane, die das Ende der Welt unter islamistische Vorzeichen stellen. Leiten die Autoren Boualem Sansal und Hazem Ilmi damit Wasser auf die Mühlen der Propaganda?

Stuttgart - Die Utopie hat in der Literatur abgewirtschaftet, es triumphiert ihre pessimistische Schwester, die Dystopie. Im letzten Jahr hat der französische Autor Michel Houellebecq in seinem Roman „Unterwerfung“ die politischen Verhältnisse Frankreichs in die Zukunft verlängert und ausgemalt, wie die im Sumpf von Décadence und Kapitalismus vor sich hin dümpelnde Grande Nation durch den Wahlsieg eines muslimischen Präsidenten wieder zu sich selbst findet, wenn auch um den Preis der Islamisierung. Die Frage, ob der Islam Teil der französischen Kultur sei, beantwortete Houellebecq für das Jahr 2020 mit einem klaren „oui“, und führte seine Prognose bei aller satirischen Überspitzung so nah an die Wirklichkeit heran, dass er unter Verdacht geriet, nicht nur einen Roman, sondern auch das Drehbuch der laufenden Ereignisse geliefert zu haben, die im Attentat auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ kulminierten.

Nun, einige schreckliche Attentate später, kommen in Deutschland, grundiert vom islamfeindlichen Rumoren rechtspopulistischer Kreise, zwei Romane heraus, die Houellebecq mit Orwell weiterdenken. Sie stellen den Überwachungsstaat des britischen Visionärs von „1984“ unter islamistische Vorzeichen und datieren ihn ins 21. Jahrhundert weiter.

Drohnen gegen Pyramiden

Der unter Pseudonym schreibende ägyptische Autor Hazem Ilmi fusioniert in der „34. Hochzeit der Donia Nour“ zwei gegensätzliche Formen der Gehirnwäsche: die eines totalitär gewordenen Konsumismus mit der theokratischen Kontrolle über die Gedanken. Im Ruf der Moschee und dem Ruf des Einkaufszentrums kommen Gott und Götze zusammen, so wie sich Hochtechnologie und Mittelalter verbündet haben, um über die Gebote der Neo-Scharia zu wachen. Sittenwächterdrohnen rauschen durch die Lüfte, das Ministerium für Sleepvertising schleust islamischkorrekte Werbebotschaften in schlafende Gehirne und ein magischer Rosenkranz misst, ob elektromagnetische Hirnwellen mit dem staatlich verordneten Geisteszustand von Unterwerfung und Hingabe konform gehen.

Jeder sammelt Bonuspunkte für die Prämie eines besseren Lebens im Paradies. Doch profitiert in der nach Klassen streng separierten Gesellschaft von der Unterwerfung unter das Gesetz vor allem die Clique der Oligarchen, die sich in ihren paradiesischen Villen die Zeit damit vertreibt, gegen Gold junge Mädchen zu deflorieren. Klar, dass ein so organisiertes Gemeinwesen nicht selbst über das Know-How für die zur Kontrolle seiner Unmündigkeit notwendigen Hightec-Produkte verfügt. Es erwirbt sie durch den Ausverkauf der Kulturgüter und der identitätsstiftenden Tradition an die Ungläubigen, Drohnen gegen Pyramiden.

Der Autor hat in Kairo lange als Neurowissenschaftler geforscht, mit gutem Grund ist über seinen derzeitigen Aufenthaltsort nur wenig bekannt. Mit obszönem Humor breitet er das Instrumentarium aus, mit dem die ehrenwerten Sittenstrengen ihren privaten Lüsten frönen, vom Hymen-Scanner bis zum Spritzkondom. Wild treiben es Religion und Herrschaft, die Begleitmusik bilden zu Slogans der Machterhaltung abgesunkene Koran-Suren.

Vom Hymen-Scanner bis zum Spritzkondom

Bei aller futuristischen Überzeichnung besticht dieses Bild der Zukunft weniger in seiner prognostischen als in seiner deskriptiven Qualität. Ilmis Ägypten von morgen ist eine böse Satire auf das Ägypten von heute, das nach dem hoffnungsvollen Aufstand seine Zukunft verspielt hat, zunächst an die Muslimbrüder, auf deren theokratisches Regime der bereits 2013 geschriebene Roman wohl gemünzt war, dann an den Militärputsch des heutigen Machthabers al Sisi.

In Abis Reich

Auch in dem Gottesreich, von dem der Friedenspreisträger Boualem Sansalin seinem Roman „2084“ berichtet, beben Erfahrungen nach, die der einst hohe Regierungsbeamte in seiner Heimat Algeriengemacht hat. Doch dazwischen liegen Atomkriege, Zerstörungen planetarischen Ausmaßes, gewaltige Klimaveränderungen. Auf diesen Trümmern hat der erleuchtete Abi den nach ihm benannten Staat Abistan errichtet. „Alles war bestens geregelt, nichts konnte ohne den ausdrücklichen Willen des Apparats geschehen.“ Kollektive Gebete bestimmen den Rhythmus der Tage und Stunden, man spricht Abilang, ein Pendant zum Newspeak aus „1984“. In dieser Sprache ist auch das Heilige Buch des Gkabul verfasst ist, in dem Abi seine göttliche Lehre niedergeschrieben hat. „Yölah ist groß und Abi ist sein treuer Gesandter“, lautet darin der zentrale Satz.

In einer Art Teufelskreis reguliert die Religion in Abistan die von ihr generierten ökonomischen und demographischen Widersprüche: Menschen wie Automaten halten das System im Rhythmus von Fron und Gebet in Gang; gefährliche Pilgerfahrten und heilige Kriege entfernen die überzähligen Massen aus den Städten, indem sie ihnen auf der Straße der Erfüllung einen schönen Tod bieten.

Märtyrer des Existenzialismus

Aus der alten Welt kursieren Restbestände, verbotene Sprachtrümmer wie Bigaye – eine Verballhornung des großen Auges von Orwells Big Brother – oder Demok, das Gespenst einer politischen Geheimorganisation. Aus der alten Welt stammt auch das philosophische Besteck, mit dem Sansal den Totalitarismus der Religion seziert: Die Beamten-Kasbahs in der unendlichen Hauptstadt, gigantische Geheimnisfabriken, sind Nachbildungen der höchstkonkreten Wahngebäude Franz Kafkas. Abistan ist ein anderes Absurdistan, sein Held ein Märtyrer des Existenzialismus, gewappnet mit den Zentralbegriffen der Camus’schen Lehre: Freiheit, Revolte, Entscheidung. In einer düster glühenden Sprache führt Sansal durch schroffe Gedankenlandschaften, Szenerien der Ausweglosigkeit, in denen sich das lineare Wesen der Zeit in beklemmend säkularem Stillstand staut. Das Ende der Welt hat begonnen.

Gegen Wahn und Ignoranz

Leiten diese Bücher nun Wasser auf die Mühlen der gegenwärtig laut klappernden Islamkritik? Hazem Ilmis comicstriphafte Religionszertrümmerung gewinnt ihren Mut und ihre Schärfe im politischen Kontext des politischen Freiheitskampfs in Ägypten. Für wie real der Muslim Sansal die Gefahr einer religiöse Diktatur hält, hat er zuletzt in seinem Essay „Allahs Narren – Wie der Islam die Welt erobert“ ausgeführt. Aber seine Kritik schürft in jeder Hinsicht zu tief, um sich vor den propagandistischen Karren spannen zu lassen, in dem die ideologischen Kreuzritter von heute gegen den Untergang des Abendlands trommeln.

Parolen lassen sich aus Sansals, die Abbruchkanten des Sinns expressionistisch überwuchernden Sprache nicht gewinnen. Wütend zermalmt er mit dem religiösen Trug alles, was diesem gleichkommt. Er befriedigt keine Ressentiments. Sehr wohl aber lässt sich aus seiner düsteren Fantasie die Warnung ableiten, durch kollektiven Wahn und Ignoranz die Grundfesten der Zivilisation zu erschüttern, und dadurch die Demokratie in ein Gespenst ihrer selbst zu verwandeln. Diese Warnung richtet sich an die Eiferer auf allen Seiten.

Von 2084 auf die Vergangenheit zurückgeblickt, zeigt sich deutlich, was sich ändern müsste, um die Menschheit vor dieser Zukunft zu bewahren. Das aber wäre Stoff für Utopien.