Hier vor Damaskus wurde der IS 2018 vertrieben. Kehrt er bald zurück? Foto: dpa/Ammar Safarjalani

Im Irak und Syrien sind die Regierungen mit sich selbst oder Corona beschäftigt. Das nützt der IS, um sich neu aufzustellen – und mit gezielten Attacken anzugreifen. Droht ein neuer Durchmarsch der Islamisten?

Bagdag/Damaskus - Seit Wochen häuften sich nächtliche Überfälle, Sprengfallen, Entführungen, falsche Straßensperren und Selbstmordattentate. Gut ein Jahr nach der Kapitulation ihres „Kalifates“ sind die Dschihadisten des „Islamischen Staates“ wieder auf dem Vormarsch, auch wenn sie in Irak und Syrien kein festes Territorium mehr kontrollieren. Stattdessen nutzen sie die globale Corona-Krise, um ihren Guerillakrieg massiv auszuweiten.

Ihre Kommandos agieren in den sunnitischen Provinzen im Norden und Westen des Irak, im Osten Syriens sowie in den schwer zugänglichen Wüstenregionen entlang der 600 Kilometer langen irakisch-syrischen Grenze. Mehr als 430 Anschläge gingen seit Beginn des Jahres auf ihr Konto, im Vergleich zu Januar liegt deren Zahl im Corona-Monat April bereits doppelt so hoch. Allein in Bagdad explodierten diese Woche fünf Sprengsätze.

Die Sicherheitskräfte haben anderes zu tun

Denn große Teile der irakischen Sicherheitskräfte sind abgelenkt, weil mit der Überwachung der Pandemie-Ausgangssperre beschäftigt. Viele Polizisten und Soldaten erscheinen aus Angst vor Infektionen nicht mehr zum Dienst. Zum anderen haben die US-Antiterror-Einheiten im Irak im Konflikt um ihre Stationierung die Zahl der Stützpunkte und Ausbilder sowie die Luftaufklärung stark reduziert. Dieses doppelte Sicherheitsvakuum spielt den Extremisten jetzt in die Hände.

Im Irak richten sich die IS-Serienangriffe gegen Soldaten und Polizisten, kurdische Peshmerga, schiitische Milizen und Bewaffnete lokaler Stämme. Sechs Überlandleitungen im Nordosten des Landes wurden zerstört, sodass Hunderttausende ohne Strom sind. Kürzlich attackierte ein Selbstmordattentäter sogar die irakische Antiterror-Zentrale in Kirkuk. Neu sei, dass sich der IS stark genug fühle, größere und komplexere Attentate in Städten zu verüben, erläuterte Nicholas Heras vom Institute for the Study of War.

Der Druck dieser neuen Terrorwelle ist mittlerweile so hoch, dass selbst pro-iranische Politiker in Bagdad nicht mehr strikt an dem Parlamentsbeschluss vom Januar festhalten wollen, der den Abzug aller ausländischen Truppen forderte. Anfang Juni will die neue irakische Regierung unter Premier Mustafa Al-Kadhimi mit Washington über die Zusammenarbeit verhandeln. Denn die irakischen Spezialkräfte werden mit dem IS nicht fertig. Sie sind auf die US-Aufklärung genauso angewiesen wie auf die amerikanischen Drohnen und Kampfhubschrauber.

UN warnen vor einer „tickenden Zeitbombe“

Im Blick auf Syrien warnte UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet derweil vor einer „tickenden Zeitbombe“. Seit Monaten operieren die Gotteskrieger praktisch unbehelligt in der Badiya-Wüste östlich von Homs und westlich von Deir Ezzor, die zum Machtbereich von Bashar al-Assad gehört. Schwer bewaffnete IS-Konvois, deren Kriegsgerät offenbar teilweise aus Armeebeständen des Regimes stammt, paradieren durch die dünn besiedelten Regionen. Letzte Woche starben sieben Assad-Soldaten, als ihr Bus in einen Hinterhalt geriet. Einen Monat zuvor verloren in dem Gasförder-Städtchen Sukhna 32 Soldaten ihr Leben. Die Gefechte mit dem IS dauerten zwei Tage.

In ländlichen Gebieten gebe es hunderte, wenn nicht tausende von Verstecken, alle ausgestattet mit Kommunikationstechnik, Sprit, Generatoren, Sprengstoffvorräten und Bombenwerkzeug, erläuterte Michael Knights vom Washington Institute: „Das ist das Rückgrat dieser Erhebung.” Die International Crisis Group, die Analysen für internationale Konflikte erarbeitet, mahnt: „Die Länder sollten Vorkehrungen treffen, um sich vor den Gefahren durch den IS zu wappnen.“