Kindheit in Freiberg: Sandra und Nicole Fritz Foto: privat

Die eine leitet die Kunsthalle in Tübingen, die andere arbeitet als Bibliothekarin auf der ganzen Welt – eine Begegnung mit den Schwestern Nicole und Sandra Fritz aus Freiberg.

Freiberg -

Das letzte Treffen der beiden Schwestern liegt Monate zurück. Sie leben weit entfernt voneinander und sind viel beschäftigt. Nicole Fritz, 49, leitet die Kunsthalle in Tübingen. Sandra Fritz, 45, lebt nach Stationen auf der ganzen Welt momentan auf Island. Fest im Kalender stehen nur die Wiedersehen an Weihnachten in Freiberg, wo ihre Eltern noch leben. Logisch, dass das Gespräch – das kurzfristig in der Kunsthalle stattfindet – von Heimat handelt. Aber auch von Wissensdurst und Dankbarkeit.

Woran denken Sie, wenn Sie an „daheim“ denken?

Nicole Fritz Daheim sein hat viel mit Vertrautheit zu tun. Als Kind habe ich mich bei meinen Großeltern am Bodensee sehr heimisch gefühlt. Als ich nach Ravensburg ging, wo der Bodensee nicht weit ist, war das eher wie Heimkommen für mich, als es Freiberg ist, wo ich zur Schule ging.

Sandra Fritz Heimat kann ein Ort sein, an dem man aufgewachsen ist, an dem man lebt, aber eben auch ein Ort in sich. Das habe ich an all meinen Stationen gelernt, dass es die Heimat in sich gibt.

Woran haben Sie das gemerkt?

Sandra An der Leichtigkeit, mit der man einen Ort hinter sich lassen kann. Natürlich sind Abschiede nie einfach. Trotzdem fiel es mir doch relativ leicht, mich an einem neuen Ort wieder niederzulassen, mich zu integrieren, mir einen Mikrokosmos zu schaffen.

Woran denken Sie, wenn Sie an „Freiberg“ denken?

Sandra Freiberg verbinde ich vor allem meine Jugendzeit, das Jugendhaus und die Oscar-Paret-Schule und, ganz wichtig, die Stadtbibliothek.

Nicole Ich war schon sieben, als wir von Rheinland-Pfalz nach Freiberg kamen. Das war prägend für mich, woanders hinzugehen. Vor allem an einen Ort, wo man eine ganz andere Sprache spricht. In der Schule habe ich erst einmal nichts verstanden.

War Ihnen schon immer klar, dass Sie in die Welt hinaus wollen?

Nicole Ja. Die Sehnsucht und Neugierde war immer da. Das habe ich sogar schon früh in der Schülerzeitung formuliert. Ich wollte weg, nicht, weil es mir in Freiberg nicht gefallen hätte. Aber ich habe schon früh eine viel stärkere Bindung zur Kunstwelt gefühlt, dort wollte ich hin.

Sandra Anfang der 80er Jahre wurde Freiberg S-Bahn-Haltestelle der Linie S 4, das hieß, man durfte am Einweihungstag kostenlos S-Bahn fahren. Wir sind damals gleich bis Endstation Schwabstraße gefahren. Das war ganz wichtig und spannend.

Nicole Und, dass man ganz einfach in die Staatsgalerie gelangen konnte.

Sandra Fritz liebt die Natur und die Ruhe – deshalb hat sie sich vor zwei Jahren entschieden, in Reykjavík auf Island zu leben und zu arbeiten. Nach Jahrzehnten in den Metropolen der Welt schien das eine logische Folge. Sandra Fritz hat als Bibliothekarin unter anderem für verschiedene Einrichtungen der Unesco in Paris und das Orient-Institut in Istanbul gearbeitet.

Wie reagieren die Leute, wenn Sie sagen: „Ich bin Bibliothekarin?“

Sandra Einer meinte mal: „Was kann man fürs Bücher einstellen denn studieren?“ Aber natürlich ist das Thema viel komplexer. Und tatsächlich werde ich oft interessiert gefragt, was man als Bibliothekarin eigentlich macht.

Und, was machen Sie?

Sandra Ich arbeite ja in wissenschaftlichen Bibliotheken, und meine Aufgabe – ganz grob umrissen – ist es, Ressourcen zugänglich zu machen. Das heißt, ich filtere aus Veröffentlichungen zu bestimmten Themen die Essenz heraus und überlege, wie jemand, der an diesen Themen arbeitet, nach diesen Texten suchen würde. Durch entsprechende Schlagworte schaffe ich einen Zugang.

Ihre erste Station war das Metropolitan Museum of Art in New York. Fulminanter kann man eine Karriere kaum starten, oder?

Sandra Das war schon eine tolle Sache. Ich habe nach meinem Studium einfach dort angerufen und gefragt, ob ich ein Praktikum machen kann, natürlich unbezahlt. Und der sehr nette Leiter dort war sehr offen. So habe ich einen Fuß in die Tür bekommen. Und als mein Praktikum vorüber war, wurde mir angeboten zu bleiben.

An welchen Ihrer Stationen haben Sie persönlich am meisten gelernt?

Sandra Dadurch, dass ich an jedem Ort von sehr viel Diversität und Vielfalt umgeben war, war jeder Ort sehr lehrreich für mich. Am meisten habe ich aber wohl in New York gelernt, weil ich dort in jungen Jahren war. Und weil die Vielfalt dort ganz besonders groß ist.

Auf welche Spuren von Ihnen kann ein Besucher dort heute noch stoßen?

Nicole Du hast ein Buch von mir inventarisiert, das hast du mir mal geschrieben. Wahrscheinlich war es meine Dissertation.

Sandra Echt? Daran erinnere ich mich gerade gar nicht. Aber wegen der Spuren: Auf meinen Namen stoßen Besucher in New York auf jeden Fall nicht, meine Arbeit ist ja relativ abstrakt. Aber sie finden Zugang zu Informationsressourcen, die ohne meine Arbeit eventuell verschlossen geblieben wären. Man könnte sagen, man findet Brücken von Texten zu Lesern, die ich geschaffen habe.

Nicole Mir wird gerade so richtig klar, dass unsere Berufe eine große Gemeinsamkeit haben: Das Brücken bauen über verschiedene Kulturen hinweg. Ich baue ja Brücken in die Kunstwelt.

Als Nicole Fritz entschied, Kunstgeschichte und Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen zu studieren, war ihr Vater nicht sonderlich begeistert. Befürchtete er doch, dass man von der brotlosen Kunst nicht leben kann. Nun, Nicole Fritz kann davon leben, sie ist eine sehr erfolgreiche Kunstvermittlerin geworden. Einer breiten Öffentlichkeit wurde sie bekannt, als sie 2011 die Leitung und den Aufbau des Ravensburger Kunstmuseums übernahm. Seit ihrem Start an der Kunsthalle in Tübingen sorgt sie für Schlagzeilen, positive zumal. Ihre Veranstaltungen und Ausstellungen – „Almost alive“ heißt die aktuelle – werden hochgelobt und ziehen scharenweise Besucher an.

Sie sind seit Anfang dieses Jahres an der Kunsthalle in Tübingen. Sind sie glücklich?

Nicole Ja.

Warum?

Nicole Weil sich in kürzester Zeit das eingestellt hat, was ich mir vorgenommen habe: Diesen Ort mit neuem Leben zu füllen und zu einem wirklich lebendigen Kunstort zu machen. Das ist ein gutes Gefühl, mit dem Ort und den Menschen verbunden zu sein und etwas bewegen zu können.

Warum ist Ihre Arbeit wichtig?

Nicole Schauen Sie mal ins Besucherbuch. Da kriegt man sehr schön zurückgemeldet, warum diese Arbeit wichtig ist: Das Museum ist ein Lernort, ein Ort, an dem der Besucher über sich selbst reflektieren kann.

Warum ist das wichtig?

Nicole Weil der Mensch mehr ist als ein Kotlettfresser – wie es der Künstler Joseph Beuys mal formuliert hat. Weil man über die Kunst mit seinen Emotionen und Gedanken in Kontakt kommt, weil man mehr erfährt über sich, über sich hinauswachsen kann. Im Museum bauen wir die Brücke zu anderen Welten.

Wann haben Sie gespürt, wie die Kunst Ihren Blick verändert?

Nicole Als ich mit etwa 20 eine Beuys-Zeichnung von einem Schaf gesehen habe – das war mein Initiationserlebnis. Dieses kleine Schaf war sehr sensibel gezeichnet, es war nicht nur Leib, nicht nur Materie, es war beseelt. Diese sensible Weltwahrnehmung hat bei mir eine unglaubliche Resonanz ausgelöst. Das war ein sehr schönes Erlebnis – solche Erlebnisse hat man in der Kunst immer wieder. Kunst ist für mich Erkenntnissuche im ästhetischen Feld.

Sandra Das Schöne für mich an Büchern ist die Inspiration, die von ihnen ausgeht. Sie können eine Weisheit vermitteln oder Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt anderer. Sie können einem einen anderen Blick auf sich selbst schenken oder eine Resonanz erzeugen, wie meine Schwester sie schildert. Ein Buch, das mich in letzter Zeit sehr berührt hat, war Tschick.

Warum?

Sandra Auch da geht es um Aufbruch, um Horizonterweiterung, um eine Initiationsreise zweier Jugendlicher, und es geht um Freundschaft. Wie Wolfgang Herrndorf diese Geschichte erzählt, wie er Humor und Tiefe vereint, spricht mich sehr an.

Nach einer zweimonatigen Islanderkundung inklusive kurzem Aufenthalt in der alten Heimat arbeitet Sandra Fritz nun wieder für die Unesco in Paris. Das tut sie von Island aus, wo sie sich berufsbegleitend auch zur Shiatsu-Praktikerin ausbilden lässt. Shiatsu ist, ganz grob gesagt, eine spezielle Massageform. Sandra Fritz spricht sehr ruhig, sehr überlegt, trotzdem ist jedem Satz anzuhören, wie viel Freude es ihr bereitet, Neues zu entdecken und zu lernen. Nicole Fritz, in deren Hochdeutsch sich bisweilen die „Kunschd“ mischt, ist gedanklich bereits bei den Ausstellungen für das übernächste Jahr. Hört man sie reden, ahnt und wünscht man, dass ihr die Ideen für Ausstellungen niemals ausgehen.

Wenn man Ihre Biografien verfolgt, könnte man denken: Alles ist möglich. Ist das so?

Nicole Ja! Aber es ist ganz wichtig, dass man will, dass man hartnäckig will und sich nicht entmutigen lässt. Die Freiheit wird einem nicht geschenkt, man muss sie sich nehmen.

Sandra Es ist eine Kombination: Man muss überhaupt die Möglichkeiten haben, in die Ferne zu ziehen und sich auszuprobieren. Das ist ja nicht selbstverständlich. Und man muss sich Möglichkeiten selbst schaffen. Man muss den Mut haben, auf Leute, auf Institutionen zuzugehen von denen man lernen möchte, mit denen man gerne zusammen arbeiten möchte. Ich hatte auch immer sehr viel Glück, dass ich Menschen getroffen habe, die meine Fähigkeiten erkannt und gefördert haben.

Wie geben Sie heute anderen etwas weiter?

Nicole Die Erkenntnisse, die ich über die Kunst erfahre, versuche ich in Ausstellungen, Führungen und Vorträgen weiterzugeben. Das ist wie Einatmen und Ausatmen. Es freut mich sehr, wenn das auf Interesse und Resonanz stößt.

Sandra Durch meine Tätigkeit versuche ich Zugang zu dem zu schaffen, und das weiterzugeben, was schon da ist, sozusagen als Verbindungsglied im Großen und Ganzen zu wirken. Hinzu kommen dann all die Erfahrungen, die man auf dem Weg hat sammeln können und die in den täglichen Umgang und Austausch miteinfließen.

Wie hat Ihre Arbeit Sie verändert?

Nicole Ich habe lernen müssen, dass es Menschen nicht nur um den Inhalt geht, sondern auch um gesellschaftliche Hierarchien und Statusdenken. Auch den Umgang damit musste ich lernen.

Sandra Ich musste lernen, unterschiedliche Herangehensweisen an ein Thema zu kombinieren. Wir haben gelernt, dass Planen sehr wichtig ist, systematisches Vorgehen. Das ist auch sehr wichtig – aber genauso wichtig ist es zu improvisieren, spontan und flexibel zu bleiben. Bei der Unesco zum Beispiel hat man Mitarbeiter aus unterschiedlichsten Kulturen, und jeder hat seine eigene Arbeitsmentalität. In der Kombination ist das sehr inspirierend und bereichernd.

Können Sie sich vorstellen, eines Tages für immer an einem Ort bleiben zu wollen?

Nicole Das kommt auf mich zu. Ich bin ja nie zielstrebig wohin gegangen, sondern habe mich ab einem bestimmten Punkt dem Entwicklungsprozess überlassen. So bin ich nach Ravensburg gekommen, und dann nach Tübingen. Ob es noch ein anderer Ort wird, steht in den Sternen.

Sandra Ich denke, das wird kommen. Es kostet auch Energie und Kraft, sich immer wieder eine neue Infrastruktur aufzubauen. Ich denke, dass ich irgendwann einen Ort finde, an dem ich meinen Lebensabend verbringe. Das kann dann auch gerne der Bodensee sein.

Ihre ehemaligen Lehrer haben Ihre Lebenswege teilweise verfolgt und sind ziemlich stolz auf Sie. Freut Sie das?

Nicole Ja klar! Die Lehrer haben mir ja auch viel gegeben. Die Oscar-Paret-Schule war damals ja eine der ersten Gesamtschulen – da waren Gymnasium, Haupt- und Realschule unter einem Dach. Das war ein ganz besonderes Flair. Wir hatten sehr liberale, sehr inspirierende Lehrer. Ich werde nie vergessen, dass ich durch meinen Deutschlehrer verstanden habe, was Kant meinte, als er sagte: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.“

Sandra Wir hatten viele inspirierende Lehrer. Für mich war mein Kunstlehrer sehr wichtig, weil er uns die Kunst schon recht früh mit viel Leidenschaft vermittelt hat. Und dann gab es die Foto-AG und die Literatur-AG, wo man sich ganz früh ausprobieren konnte. Da fing ja die Horizonterweiterung schon an. Das war klasse!