Beim SmartphoneRoboter RoboMe können Kinder schlechte Laune einfach wegwischen. Bei Mama und Papa funktioniert das nicht. Foto: dpa

Der Hirnforscher Gerald Hüther hat nichts gegen Digitalisierung und Automatisierung – solange diese Technologien für die richtigen Ziele eingesetzt werden. Zugleich räumt er ein, dass die Neurowissenschaften viele ihrer Versprechen nicht erfüllt haben. Gehirn und Bewusstsein seien eben doch komplizierter als zunächst gedacht.

Göttingen – -
Herr Hüther, immer mehr Menschen können sich ohne Navi nicht mehr orientieren. Auch in anderen Bereichen erleichtert uns Software das Leben. Welche Folgen hat das für unser Gehirn?
Wir verlernen alles, was die Technik uns abnimmt. Oder können Sie sich noch Telefonnummern merken? Im Prinzip verhält sich das Gehirn wie der übrige Körper. Muskeln, die wir nicht beanspruchen, degenerieren und werden schwach. Man kann verlorene Fähigkeiten aber wieder aktivieren. Allerdings gibt es dabei Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen.
Inwiefern?
Erwachsene können auf das zurückgreifen, was sie schon als Kind gelernt haben – etwa eine Landkarte zu lesen. Ähnlich ist es beim Schwimmen oder Rad fahren. Das sind Grundmuster, die im Hirn verankert bleiben. Wer noch nie auf einem Fahrrad gesessen hat, tut sich schwer, das mit 50 zu lernen. Meine Sorge ist, dass bei Kindern, die von Anfang an mit digitalen Helfern aufwachsen, manche Fähigkeiten gar nicht erst angelegt werden. Dann gibt es später auch nicht viel wiederzuerwecken.
In der Debatte um Digitalisierung und Automatisierung geht es oft um negative Folgen – nach dem Motto: Wir klicken uns das Hirn weg. Es gibt aber auch positive Nebenwirkungen wie die schnellere Aufnahme visueller Informationen. Auch Multitasking kann man heute schon früh üben.
Es gibt einen weiteren Vorteil: Durch den schnellen Informationsfluss sind wir die erste Generation, die mitbekommt, welche Schäden ihr Lebensstil anrichtet. Wir lassen uns im Laden ein Plastiktüte geben – und am Abend sehen wir im Fernsehen Fische mit Plastikschnipseln im Magen. Früher vergingen Generationen, bis die Nachkommen gemerkt haben, was für einen Mist ihre Vorgänger gemacht haben. Wir bekommen in Echtzeit mit, was schief läuft. Die Digitalisierung eröffnet uns die große Chance, darauf zu reagieren und Veränderungsprozesse in Gang zu setzen. Nach uns die Sintflut – das funktioniert im Digitalzeitalter nicht mehr.
Dann ist ja alles in Ordnung.
Mir geht es nicht um Fundamentalkritik an der Digitalisierung. Ich stelle nur fest, dass es sich auf die Struktur und die Fähigkeiten unseres Gehirns auswirkt, wenn wir es in einer bestimmten Weise nutzen – noch stärker, wenn Begeisterung im Spiel ist. Sollten wir in 50 Jahren in einer komplett digitalisierten Welt leben, wird man im Alltag nicht mehr zurechtkommen ohne Tablet. Dann ist es natürlich sinnvoll, wenn man damit gut umgehen kann. Auf der anderen Seite verkümmert alles, was man nicht mehr braucht. So stellen Augenärzte fest, dass viele Jugendliche auf die Entfernung bis zum Tablet sehr gut sehen, aber dafür schlechter in die Ferne.
Das erinnert an die früheren Warnungen von Eltern und Augenärzten, nicht nächtelang zu lesen.
Bei Büchern waren die Befunde nicht so gravierend. Hinzu kommt: Wenn das Gehirn eines Kindes nicht mehr mit Bildern beliefert wird, die größere Räume zeigen, lernt es auch nicht, wie man solche Räume einordnet. Diesem Kind dürfte es später schwerfallen, Entfernungen abzuschätzen. Auf der anderen Seite hat es durch den Umgang mit Maus und Rechner eine sehr gute Hand-Auge-Koordination. Wer dauernd in digitalen Medien unterwegs ist, kann zudem schneller Bilder erfassen.
Wo ist dann das Problem?
Es geht um die Frage, was vom Menschen übrig bleibt, wenn immer mehr seiner Fähigkeiten von Maschinen übernommen werden. Wir dachten, es sei typisch menschlich, ein Gedächtnis zu haben. Doch Computer können sich viel mehr merken. Wir dachten, unsere Lernfähigkeit sei ein Alleinstellungsmerkmal. Jetzt stellen wir fest, dass auch Rechner lernen können – und etwa einen Schachweltmeister schlagen. Das ist ernüchternd. Dafür fehlen Computern zwei wichtige Eigenschaften: Sie können nichts wollen und sie haben nicht die Fähigkeit zur Kokreativität, die uns Menschen auszeichnet. Wir können gemeinsam darüber nachdenken, was wir wollen und wie wir es auf kluge Weise verwirklichen können.
Ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen ist doch auch, dass er einen Körper hat – ohne den das Gehirn nicht funktionieren würde.
Die einigermaßen reflektierten Entwickler von künstlicher Intelligenz wissen das. Ein Problem ist zum Beispiel, dass Rechner Wichtiges und Unwichtiges nicht unterscheiden können. Wir haben dafür Gefühle – Freude, Begeisterung, Angst, Wut oder Ohnmacht. Ohne Gefühle ist das, was wir erleben, ohne Bedeutung. Und Gefühle kann nur haben, wer einen Körper hat.
Studien belegen, wie wichtig Bewegung für die geistige Entwicklung ist. Muss uns der Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen Sorgen machen?
Es ist sicher nicht günstig, wenn ein Mensch unter Bedingungen aufwächst, unter denen er kaum noch spürt, wie sein Körper arbeitet und wie er ihn lenken und steuern kann. Wer alles nur noch durch die digitale Brille sieht, verliert auch leicht den Bezug zu seiner Umwelt.
Seit einigen Jahren gibt es Spielzeugroboter, an deren Kopf sich ein Smartphone befestigen lässt. Der Touchscreen zeigt je nach „Laune“ des Roboters ein Gesicht, das sich wegwischen lässt. Was bewirkt es, wenn Kinder schon im Vorschulalter mit solchen Spielzeugen hantieren?
Kinder halten ein Gerät, das sie beeinflussen können und das auf sie reagiert, für ein Subjekt – also für ein lebendiges Gegenüber. Je besser sie lenken können, was es macht, umso stärker identifizieren sie sich damit. Leider kann man Mama oder Papa nicht so leicht beeinflussen wie einen Rechner, der darauf programmiert ist, zu tun, was man will. Da kann man die schlechte Laune nicht einfach wegwischen. Die soziale Interaktion mit echten Menschen ist für ein derart trainiertes Kind energieaufwendiger als die Beschäftigung mit einem Roboter.
Was bedeutet die Digitalisierung für unser Zusammenleben?
Es ist vollkommen in Ordnung, digitale Medien zur Erleichterung unseres Alltags einzusetzen. Problematisch wird es erst, wenn wir sie als Mittel zur Affektregulation nutzen – also um Aggressionen, Frust und Langeweile abzubauen oder erotische Bedürfnisse zu erfüllen. Die Betroffenen verlernen, auf lebendige Weise mit ihren Gefühlsregungen umzugehen – etwa sich wirklich einen Sexualpartner zu suchen. Auch die Fähigkeit, gemeinsam mit anderen Menschen Konflikte zu lösen, nimmt ab.
Die Kritik an ihrem Fachgebiet, der Neurobiologie, ist in den letzten Jahren lauter geworden. Hoffnungen, psychische Krankheiten oder Demenz besser heilen zu können, haben sich nicht erfüllt. Auch die Aussagekraft von Hirnscans wird bezweifelt.
Die Kritik ist in vielen Bereichen berechtigt. Wir haben alles in seine Einzelteile zerlegt, aber es fehlt das Verständnis des Zusammenwirkens. Manche Forscher haben tatsächlich geglaubt, sie könnten in ein paar Jahren die Gedanken lesen. Auch die Zuordnung bestimmter Funktionen zu einzelnen Hirnarealen ist eine zu starke Vereinfachung. Tatsächlich sind meist mehrere Hirnregionen gleichzeitig aktiv. Entscheidend ist die Art und Weise, wie die Neuronen vernetzt sind. Und das kann man auf Hirnscans nicht sehen.
Offenbar ist unser Gehirn komplizierter als zunächst gedacht.
Unbedingt. Deshalb vollbringt es manchmal Unglaubliches. Manchmal findet ein Mensch nach einer einzigen Traumatherapiesitzung aus einer Situation heraus, in der er 20 Jahre gefangen war – und führt ab dem nächsten Tag ein anderes Leben. Wir messen immer nur, was sich reproduzieren und trainieren lässt. Aber solche Heureka-Erlebnisse kann man nicht objektivieren oder planen. Und von einer Maschine kann man sie erst recht nicht erwarten.