Für Jürgen Zieger wird die Wohnungsversorgung zur zentralen sozialen Frage der nächsten 20 Jahre. Foto: Ines Rudel

Alljährlich wirft der Esslinger Oberbürgermeister Jürgen Zieger am 24. Dezember den Blick auf das, was im kommenden Jahr die Menschen in Esslingen beschäftigen wird. Schon jetzt steht fest: ein leichtes Jahr erwartet die Bürger bestimmt nicht.

Esslingen - Schwere Zeiten kommen auf die Autofahrer in Esslingen zu. Aber auch die Wohnraumsituation und der bevorstehende Bürgerentscheid zum Standort der Stadtbücherei beschäftigen den Esslinger Oberbürgermeister Jürgen Zieger.

Herr Zieger, wann wird die Geiselbachstraße, die wichtigste Verbindung in die nördlichen Stadtteile, wieder frei befahrbar sein?

Wir gehen davon aus, dass eine interimistische Öffnung nicht möglich ist. Dafür sollen dann umso schneller die Kanalarbeiten erledigt werden. Ende 2021 soll die Geiselbachstraße wieder geöffnet werden.

Angesichts der drohenden Verkehrsbehinderungen im Stadtgebiet: Wie sollen die Bürger sich denn auf die Situation einstellen?

Wir empfehlen, dass diejenigen, die auf ihr Auto angewiesen sind, versuchen, auf schwächere Lastzeiten auszuweichen oder Fahrgemeinschaften zu bilden, wenn das ihr Beruf zulässt. Wir versuchen zudem, die Bürgerschaft zu animieren, stärker den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen. Auch deshalb führen wir von April an das kostengünstige Stadtticket ein. Wer kann, sollte zu Fuß gehen oder das Fahrrad nutzen.

Wäre es nicht wichtig, die Bürger bei den notwendigen Bauarbeiten mitzunehmen?

Zur besseren Kommunikation bei den Tiefbauvorhaben werden wir 2019 einen Runden Tisch einrichten. Unsere Bürgermeister Wilfried Wallbrecht und Markus Raab werden einen regelmäßigen Austausch zu diesem Thema in den betroffenen Stadtteilen organisieren – gegebenenfalls auch unter Beteiligung von Vertretern aus dem Gemeinderat.

Nun hat das neue Mobilitätskonzept deutlich gemacht, dass eine autofreie Stadt Esslingen auch aufgrund ihrer Topografie die reinste Illusion ist. Sind die Esslinger zum Autofahren verdammt?

Mobilität ist aus meiner Sicht keine Verdammnis, sondern ein Stück Lebensqualität. Das schätzen die Bürger, weil es auch ein Stück persönlicher Freiheit bedeutet. Mobilität wird sich in den verdichteten Städten verändern. Das gilt nicht nur für Esslingen. Wir arbeiten daran, den Modal Split, also die Aufteilung auf die verschiedenen Verkehrsträger, zu verändern.

Wie soll das gelingen?

Wir gehen von einer stärkeren Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs aus. Wir haben in der Region mit hohem Aufwand Leistungssteigerungen für die S-Bahn und in Esslingen erhebliche Mittel für den Ausbau unserer Radwege beschlossen. Das sind Grundlagen für die Bürger, ihre eigene Mobilität zu ändern.

Bisher nutzen lediglich zehn Prozent der Esslinger den ÖPNV. Sollen es zwölf Prozent werden, müsste der ÖPNV um 20 Prozent wachsen. Sind angesichts solch ernüchternder Zahlen die Bemühungen um die Elektrifizierung des Busnetzes nicht reine Augenwischerei?

Sie vermischen jetzt zwei Dinge. Zum einen geht es um die Stärkung des ÖPNV. Dazu gibt es in den Verdichtungsräumen keine Alternative – und wir sehen das Wachstumspotenzial noch deutlich höher, als Sie es beschreiben. Das zweite ist die Reduktion der Emissionen. Mit unserem O-Bus-Netz, um das wir wirklich beneidet werden und das im nächsten Jahr sein 75-jähriges Jubiläum feiert, leisten wir dazu einen gehörigen Beitrag. Für 2019 planen wir zudem eine Attraktivitätsoffensive, damit noch mehr Menschen das Angebot nutzen.

Nicht gerade förderlich für die Attraktivierung des ÖPNV war der Wechsel zu Rexer als neuem Partner des Städtischen Verkehrsbetriebs Esslingen. Der anfänglichen Wut über Fehlfahrten und Fehlverhalten der Busfahrer ist in der Kundschaft eine gewisse Resignation gewichen. Kann und will die Stadt damit leben?

Jede Anpassung im öffentlichen Nahverkehr, auch die Veränderung der Systeme und Auftraggeber, ist mit Anfangsproblemen verbunden. Das erleben wir gerade in ganz Deutschland, weil durch die EU-Gesetzgebung die Ausschreibung der Verkehrsbündel notwendig war.Erschwerend kommt in Esslingen hinzu, dass die Abwicklung des Nahverkehrs durch die großen Baumaßnahmen noch aufwändiger und komplizierter ist. Die Firma Rexer ist ein seriöses Unternehmen. Wir gehen davon aus, dass Rexer die Probleme in der nächsten Zeit löst. Wir wissen aber auch, dass zwischen den Unternehmen insgesamt ein heftiger Wettbewerb um die Busfahrer entstanden ist. Das macht die Sache nicht leichter.

Wie sieht es mit den hehren Klimazielen aus, die sich die Stadt 2013 gesetzt hatte – 25 Prozent weniger Kohlendioxid-Ausstoß bis 2020. Woran liegt es, dass sie diese Vorgabe nicht erfüllen können?

Stand jetzt haben wir Minus 13 Prozent der CO-2-Emmissionen erreicht. Ich halte das für ein äußerst positives Ergebnis, insbesondere vor dem Hintergrund, dass wir seit sieben Jahren eine prosperierende Wirtschaft haben – mit Mehrschichtbetrieben, also überdurchschnittlich hohen Emissionen im gewerblichen Bereich. Wir halten an unserem Ziel dennoch fest. Mit der anstehenden Elektrifizierung des O-Bus-Netzes von 21 auf 63 Prozent leisten wir dazu einen wichtigen Beitrag.

Fürchten Sie eigentlich, dass es zeitnah in Esslingen Fahrverbote für Dieselfahrzeuge geben wird?

Ja, ich bin in Sorge. Zum einen, weil ich Fahrverbote für unsozial halte: Einkommensschwächere können sich nicht gleich ein neues Auto kaufen. Ihnen wird damit die Mobilität verweigert. Ich halte es aber auch die Wirtschaft gefährdend, weil insbesondere der Handwerksbereich als wichtiger Daseinsvorsorge darunter leiden wird. Ich empfinde es als ein Stück kalter Enteignung. Ich setze mehr auf eine erweiterte Förderung der Nachrüstung, an der sich auch die Bundesregierung und die Automobilindustrie beteiligen müssen – und mittelfristig auf einen Flottentausch mit dann abgassauberen Fahrzeugen.

Es gibt aber noch andere Themen als den Verkehr: Stark diskutiert wird die Tatsache, dass an der Berliner Straße in großem Umfang Micro-Apartments gebaut werden sollen – so auch auf dem ehemaligen Zentralen Omnibusbahnhof. Hätte Esslingen an diesem zentralen Ort nicht Besseres verdient?

Das geplante Projekt auf dem alten ZOB ist nach wie vor qualitätvoll und das Ergebnis eines Architekturwettbewerbs. Die Entscheidung, was dort entsteht, ist im Gemeinderat so beschlossen. Auf dem Gelände von Citizen Boley hätte ich mir eine andere Mischung von Wohnungen und Micro-Apartments gewünscht. Da haben die Investoren Einfluss auf die Fraktionen genommen. Auf der anderen Seite: bei 44 000 Haushalten spielen insgesamt 500 Micro-Apartments in der Stadt keine bedeutende Rolle – zumal sich die Nachfrage auch wegen der Zunahme von Single-Haushalten verändert.

Sind denn Micro-Apartments überhaupt notwendig?

Auf dem Wohnungsmarkt in den Städten dieser Welt sind kleinere Wohneinheiten mit größeren Gemeinschaftseinrichtungen mittlerweile der Standard. Dafür wird es auch in Esslingen eine Nachfrage geben.

Daneben gibt es noch andere eher unglückliche Entscheidungen bei der Veräußerung von Industrieflächen – man denke nur an die Logistikhalle in Sirnau und den geplanten Umzug des Schwerlast-Logistikers Paule in die Neckarwiesen. Geht die industrielle Entwicklung Esslingens noch in die Richtung, die Ihnen persönlich vorschwebt?

Das ist jetzt eine sehr verkürzte Sicht auf den Wirtschaftsstandort. Ja, ich bin mit der Entwicklung nach wie vor zufrieden. Ich betone auch, dass wir mit mehr als 50 000 Arbeitsplätzen einen wichtigen Beitrag für die Daseinsvorsorge der Menschen in der Stadt und in der Region leisten und dass wir mit Ansiedlungen erfolgreich sind. Dafür steht die Pliensauvorstadt, dafür steht auch das Danfoss-Areal. Die Entscheidung, Schwerlastlogistik in den Neckarwiesen anzusiedeln, war eine Entscheidung, bei der ich nicht mitgestimmt habe, die ich in der Sache nicht für richtig halte und bei der wir mit der Fläche einfach zu großzügig umgehen. Aber die Wirtschaft insgesamt funktioniert bestens. Und mit der von der Wirtschaftsförderung entwickelten Gründungsstrategie sollen zukünftig auch junge Selbstständige, Start-Ups und Übernehmer branchenübergreifend optimal unterstützt werden.

Schwierig gestaltet sich der Wohnungsmarkt. Entspannung lässt sich vor allem für Geringverdiener beim besten Willen nicht erkennen. Welche Möglichkeit hat die Stadt denn überhaupt, da in irgendeiner Form regulierend einzugreifen?

Zunächst einmal aktivieren wir Flächen, die wir dann mit Baurecht versehen. Das geschieht zum Beispiel in der Neuen Weststadt. Da werden in den nächsten Jahren 550 Wohnungen gebaut, 150 davon werden gerade bezogen. Dazu kommen die Grünen Höfe in der Pliensauvorstadt mit 300, die Flandernhöhe mit 150 und Weil mit 180 Wohnungen. Über das Wohnraumversorgungskonzept wollen wir sicherstellen, dass auch preiswerter Wohnraum angeboten wird. Ob das in Zukunft reicht, wird man sehen. Ich sehe mit Sorge, dass sich die Wohnungsversorgung fast überall zur sozialen Frage der nächsten 20 Jahre schlechthin entwickelt.

Am 10. Februar gibt es erstmals in Esslingen einen Bürgerentscheid. Sie haben immer erklärt, dass Sie kein Freund davon sind. Haben Sie Ihre Meinung geändert?

Meine Grundhaltung zu Bürgerentscheiden hat sich nicht geändert, weil die Risiken der Spaltung einer Gesellschaft dem Projekt innewohnen. Deshalb sehe ich das eher skeptisch.

Sie haben doch bestimmt ein Gespür dafür, wie die Abstimmung ausgehen wird: Bleibt es beim Standort Bebenhäuser Pfleghof – oder bekommt Esslingen einen Büchereineubau an der Küferstraße.

Ich persönlich bin da wirklich ganz entspannt, weil ich schon während der Beschlussfassung öffentlich klar gemacht habe, dass ich mit beiden Varianten leben kann. Ich halte beide Lösungen für geeignet. Aus meiner Sicht ist aber die Neubaulösung mit weniger Risiken behaftet und bietet mehr Chancen. Ich werbe allerdings schon jetzt dafür – und das ist mir persönlich das Wichtigste – dass das Ergebnis von der breiten Bürgerschaft akzeptiert wird und es dann nicht zu einer emotionalisierten Diskussion kommt.

Sie selber feiern gerade ihr 20-jähriges Jubiläum als Oberbürgermeister. Ist es in dieser Zeit schwieriger geworden, Oberbürgermeister in Esslingen zu sein?

Ich bin in der Tat der dienstälteste Oberbürgermeister bei Städten mit mehr als 50 000 Einwohnern in Baden-Württemberg. Es ist, glaube ich, noch nie so leicht gewesen, Oberbürgermeister zu werden, aber auch noch nie so schwer gewesen, Oberbürgermeister zu sein und die widerstreitenden Positionen in Bürgerschaft und Gemeinderat zu einer Mehrheitsagenda zusammenzuführen. Ich bin ein bisschen stolz darauf, dass uns dies verantwortungsvoll im Gemeinderat und kollegial in der Bürgermeisterunde bisher gelungen ist.

Früher sind Sie ein Marathonläufer gewesen. Wie sieht es heute mit dem Sport aus?

Ich habe im nächsten Jahr mit meinen Freunden die sechste Transalp-Mountainbike-Tour geplant. Da quälen wir uns dieses Mal durch die Dolomiten. Zwei bis drei Mal pro Woche jogge ich nach wie vor 10 bis 15 Kilometer. Ich laufe aber in der Tat keinen Marathon mehr. Ich schwimme gerne – und mache einmal im Monat Fingerhakeln im Gemeinderat.