Wallat (Peter Kurth, li.) geht Hagenow (Tobias Moretti) hart an. Foto: ARD Degeto/Boris Laewen

Dies will mehr als ein Routinekrimi sein: „Im Abgrund“ im Ersten mit Peter Kurth und Tobias Moretti lässt einen Polizisten gegenüber einem Verdächtigen alle Grenzen überschreiten.

Stuttgart - Der Kriminalbeamte David Wallat hat keine Skrupel, er hat Erfahrungen. Aus denen heraus handelt er. „Im Abgrund“ führt ihn als wuchtig beleibten Kerl vor, der Schauspieler Peter Kurth hat für die Rolle offenbar kein Gramm abgespeckt. Der Polizeiarzt würde vielleicht Wallats Diensttauglichkeit anzweifeln, aber der Autor Arndt Stüwe und der Regisseur Stefan Bühling können den schweren Bauch gut gebrauchen. Der steht sinnfällig dafür, dass sich in diesem Polizeileben etwas angesammelt hat, dass Wallat etwas mitschleppt.

Das sieht dieser hart auftretende Polizist nicht als Defekt, sondern als Qualität. Als der Kindermörder Joseph Maria Hagenow (Tobias Moretti), den Wallat einst hinter Gitter gebracht hat, aus der Haft entlassen wird und für die erste Orientierungsphase bei einem Pfarrer in der Provinz unterkommt, gibt Wallat gerne zu, wie er die Sache sieht. „Jeder verdient eine zweite Chance“, sagt der Gottesmann. „Nein, nicht jeder“, kontert Wallat.

Risiko und Rechte

„Im Abgrund“ geht ein heikles Thema an. Hagenow hat einst nicht im Affekt getötet. Er hat einen Jungen entführt, lebendig in einer Kiste im Wald vergraben und ersticken lassen. Wallat ist fest davon überzeugt, dass Hagenow für das Verschwinden mindestens eines weiteren Kindes verantwortlich ist, was er damals aber nicht beweisen konnte, weil die Leiche nie gefunden wurde. Wie die meisten seiner Kollegen hegt er keinen Zweifel, dass von Hagenow weiter akute Gefahr ausgeht. Da ist dieser Film nahe dran an einem Problem der Realität: Hier die nicht aus der Luft gegriffene, aber eben auch nicht handfeste Risikoeinschätzung, dort die Rechte des Vorbestraften, der nun wieder Anspruch auf ein normales Leben hat. In der Realität wie im Film gibt es Maßnahmen zur Überwachung rückfallgefährdeter Straftäter, die sich stets in einer Grauzone zwischen Zuviel und Zuwenig bewegen. Wallat sitzt als Teil eines Dreimannteams fast Wand an Wand mit Hagenow, rund um die Uhr soll der Mann nun beobachtet werden.

Gespenster im Wald

Wallats Kollegin Lisa (Tinka Fürst) ist wie er selbst überzeugt davon, dass der Haftentlassene bereits daran arbeitet, seine Perversion wieder ausleben zu können. Der Polizist Eric (Simon Schwarz) muss ständig und nicht immer erfolgreich anmahnen, dass die Rechte des Mannes nicht verletzt werden und keine illegalen Methoden zur Anwendung kommen.

Auf dem Papier sind das gleichwertige Debatten. Die Inszenierung aber lässt keinen Zweifel: Eric ist so integer wie weltfremd, Wallat und Lisa sind dagegen pragmatische Cops von echtem Schrot und Korn, die ihren Auftrag, Menschen vor Verbrechern zu schützen, ernster nehmen als irgendwelche Paragrafen und Vorschriften.

Da sind zum Beispiel die Visionen, die Wallat hat. Ist er allein im Wald, sieht er den Geist des zweiten kleinen Jungen, den Hagenow seiner Meinung nach umgebracht hat. In Spielmontur als Indianer verkleidet, aber mit ernstem Gesicht versucht dieses Gespenst, Wallat anzutreiben, die Suche nach seinem Grab, nach seiner Kiste irgendwo im Waldboden nicht aufzugeben.

Ein spöttischer Verdächtiger

Man könnte das als Zeichen der Zerrüttung des Polizisten ins Bild setzen, als Beweis, dass Wallats Traumatisierung durch die Schrecken des Jobs ihn nicht mehr klar denken lässt. Stattdessen wird es zum Beweis für den Ernst und die Dringlichkeit von Wallats Vorhaben, Hagenow mit allen Mitteln zu Fall zu bringen. Die Vision des kleinen Jungen steht für die höhere Verpflichtung, der Wallat zu folgen hat.

„Im Abgrund“ ist erstklassig besetzt, aber man hat sowohl Kurth als auch Moretti schon viel eindrucksvoller erlebt. Hier lassen ihnen Drehbuch und Inszenierung nicht viel Möglichkeiten, ihre Figuren mit interessanten Abseiten und Widersprüchen auszustatten. Moretti muss als Hagenow mit einer mokanten, boshaften Selbstgefälligkeit und Sticheligkeit auftreten, die uns von Anfang an klarmachen soll: Dieser Kerl ist schuldig, er ist stolz auf seine begangenen und seine erst noch geplanten Verbrechen. Er genießt es, dass Wallat Bescheid weiß, aber nichts beweisen und damit vermeintlich auch nichts unternehmen kann und deswegen beinahe die Wände hochgeht.

Dann lieber „Dirty Harry“

Die Lage eskaliert zügig. Ein Junge verschwindet, Hagenow bestreitet jede Beteiligung in einem Ton, der verdächtiger nur sein könnte, wenn ihm dabei Kinderblut von den Zähnen tropfte. Die Cops schlagen zu. Wallat und Lisa entführen und foltern den Verdächtigen. Sie wollen das vermutlich in einer Kiste eingegrabene Kind finden, bevor es erstickt.

Selbstjustiz von Polizisten ist ein großes, meist wenig verantwortungsvoll gehandhabtes Thema des Actionkinos. Aber die „Dirty Harry“-Schule ist ehrlich, ist auf offene Weise blindwütig naiv. „Im Abgrund“ tut problembewusst und huldigt hinter dieser Fassade dem Rächercop – das ist die unangenehme Variante.

Ausstrahlung: ARD,
Samstag, 26. September 2020, 20.15 Uhr. Bereits vorab in der Mediathek des Senders abrufbar.