Aus dem Lehrvideo zur Ausstellung „Entsesselt!“ Foto: Die Arge Lola

In der Schau „Entsesselt!“ demonstrieren angehende Innenarchitekten, was sich mit einem reduzierten Einrichtungsstil gewinnen lässt.

Stuttgart - Als Erstes fliegt der Stuhl aus dem Fenster. Das ist kein Zufall, denn streng genommen sind alle Sitzmöbel Zivilisationsballast. „Für die meisten Naturvölker versteht es sich von selbst, dass man auf dem Boden hockt“, erklärt Wolfgang Grillitsch von der Stuttgarter Hochschule für Technik. Gemeinsam mit den Eleven des Studiengangs Interior Design sowie Studenten ausländischer Partnerinstitute hat sich der Professor Gedanken über den Wohnstil von morgen gemacht. Unter dem Titel „Entsesselt!“ sind die Ergebnisse des Projekts nun in der Stuttgarter Ifa-Galerie zu sehen.

Urbane Horrormieten, aber auch ökologische Überlegungen und die Zunahme von Single-Haushalten haben den Trend zum Minimalismus in den eigenen vier Wänden längst entfacht. Trotzdem, beobachtet Grillitsch, sei die voll eingerichtete Speckgürtelvilla immer noch das Ideal der Deutschen. „Die Leute haben Küchen, um ganze Wildschweine zu braten, aber dann kochen sie gar nicht mehr selbst, sondern bestellen jeden Abend Sushi.“

An sechs interaktiven Stationen führen die Studenten vor, was sich durch Möbelverzicht gewinnen lässt. In dem humoristischen Lehrvideo zum Beispiel folgen auf den Stuhl auch Sessel und Tisch. Nach der Entrümpelung hat die Bewohnerin plötzlich wieder Platz, in ihrem Zimmer zu tanzen und zu turnen. „In heutigen Wohnungen“, sagt der Innenarchitekt, „ist der gesamte Raum unterhalb der Tischkante verschwendet.“ Dabei verberge sich gerade dort extrem viel Potenzial.

Doch Grillitsch weiß auch: „Wichtigste Aufgabe der Architektur ist es, das reduzierte Leben mit positiven Bildern zu besetzen.“ Sonst erinnere das Tiny House der Zukunft nur an Gefängniszellen oder Wohncontainer. Deshalb arbeiten die angehenden Entwerfer mit Abenteuernarrativen zwischen Hausboot und Baumhaus. Kletterkünste jedenfalls sind bei jener Musterwohnung gefragt, die in ein modulares Regalsystem hineingebaut wurde, Klo und Kochnische inklusive. Nicht alles ist für die Praxis gedacht, eher geht es um das Statement, überhaupt etwas an unserer Raumgefräßigkeit zu ändern.

Wo sind die Grenzen des schlanken Wohnens

Denn der Mehrwert des abgespeckten Eigenheims liegt nicht nur in der Ersparnis von Zeit, Raum und Geld, auch neue Gemeinschaftserfahrungen können daraus entstehen. „Hier“, so Grillitsch, „hat uns die Kooperation mit den Studenten aus der Türkei und Indien viel genutzt.“ In diesen Ländern sei es wesentlich verbreiteter, sich etwa gegenseitig Haushaltsgeräte zu leihen.

Indem man anfassen und ausprobieren darf, ist das Ganze sehr unterhaltsam, doch der Besucher spürt auch, dass ihn das Gezeigte selbst betrifft. Hinterher werden wohl viele darüber nachdenken, was sie bei sich zu Hause alles wegwerfen können. Beziehungsweise gar nicht erst anschaffen müssen.

Gegenstand der studentischen Reflexion war aber zugleich die Frage nach Grenzen des schlanken Wohnens. In dieser Hinsicht fallen die Ergebnisse leider etwas unscharf aus: Ist eine verlässliche Wasserversorgung wirklich der einzige gemeinsame Nenner? Auch die Frage nach der sozialen Verteilungsgerechtigkeit, also das Problem, dass manche genau deshalb sehr wenig Platz haben, weil andere enorm viel davon besitzen, wird etwas zu elegant umgegangen. Hier hätte man der Schau noch ein wenig mehr revolutionären Elan gewünscht. Vielleicht nach dem Motto: Friede den Tiny Houses, Krieg den Vorstadtpalästen!