Der tödliche Unfall in der Rosensteinstraße hat große Betroffenheit ausgelöst. Foto: dpa

Nach dem Raserunfall im Nordbahnhofviertel mit zwei Toten will die Polizei präsenter sein. Bei den Behörden galt die Rosensteinstraße zuvor als unauffällig. Anrainer im Quartier sehen das ganz anders.

Stuttgart - Seit mehr als zehn Jahren ist der Mann hautnah dran. Von seinem Arbeitsplatz aus hat er einen exklusiven Blick aus dem Fenster – genau auf die Rosensteinstraße, der Hauptschlagader für die Autofahrer im Nordbahnhofviertel. „Man kann es deutlich hören, dass hier täglich aufgedreht wird“, sagt der Beschäftigte, der hinter seinem Fenster unerkannt bleiben und auch den Arbeitgeber nicht genannt haben möchte. Keine Negativwerbung. Und doch „muss man vor allem auch als Fußgänger schon höllisch aufpassen“, sagt er.

Dabei soll die Rosensteinstraße, der Boulevard mit Ufa-Kino, Kneipen, Bildungseinrichtungen, Firmen und Wohnungen, gar nicht so gefährlich sein. „Die Strecke ist kein Unfallschwerpunkt“, sagt Polizeisprecherin Monika Ackermann. Röhrende Motoren, Kavalierstarts, Raser, Beinaheunfälle? Dass die sogenannte motorisierte Vergnügungsszene von der Innenstadt ins Nordbahnhofviertel ausgewichen sein soll, „darüber haben wir keine Hinweise“, sagt Verkehrspolizistin Ackermann.

Was vor allem junge Fahrer unterschätzen

Auch nicht in der Nacht zum Donnerstag, als es schlimmer kam, als von manchen Anwohnern befürchtet. Ein 20-Jähriger war mit einem gemieteten 550-PS-Sportwagen stadteinwärts unterwegs, wohl mit 80 bis 100 Sachen statt mit Tempo 50, und dabei quer über die Straße in eine Tiefgaragenausfahrt geschleudert. Dort stand ein Citroen-Kleinwagen – und wurde von dem außer Kontrolle geratenen Geschoss voll getroffen. Die 22 und 25 Jahre alten Insassen waren sofort tot. Der 20-jährige Unfallverursacher blieb wie sein 18-jähriger Beifahrer unverletzt. Er kam in Untersuchungshaft.

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Ursachen? „Meist fehlende Fahrerfahrung und höhere Risikobereitschaft“, vermutet Reimund Elbe, Sprecher des ADAC Württemberg. Bei PS-starken Motoren sei weniger die erreichbare Höchstgeschwindigkeit das Problem. „Der Hauptunterschied ist die teils sehr starke Beschleunigung des Fahrzeugs“, sagt Elbe. Das unterschätzten vor allem junge Fahrer mit wenig Fahrpraxis.

Hinweise gab es schon früh

Ein 28-jähriger Anwohner hatte es fast schon prophezeit. Dass hier tatsächlich mal Schlimmeres passieren könnte, hatte er im Juni 2018 den Behörden geschrieben. Von Norden kommend, also wie jetzt der weiße Sportwagen, verlaufe die Rosensteinstraße in einer leichten, aber stark die Sicht einschränkenden Rechtskurve, schrieb er. Und weil es zunächst durch dünner besiedeltes Gebiet gehe, werde gerne deutlich schneller als Tempo 50 gefahren. „Und dann kommt man plötzlich in die enge Bebauung der Freizeitmeile“, sagt der Anwohner. Eine große Gefahr für Passanten. „Da müssen dann viele immer wieder schnell über die Fahrbahn rennen“, sagt der 28-Jährige. Einen Überweg oder eine Fußgängerfurt gibt es nicht.

Wenn was passiert, ist es meist spektakulär. Im März 2018 beispielsweise, weiter in Richtung Löwentor, hatte ein 63-jähriger VW-Touran-Fahrer aus dem Parkplatz eines Lebensmitteldiscounters ausfahren wollen. Ein typischer Fehler: Beim Einbiegen in die Rosensteinstraße übersah er den VW Tiguan einer 36-jährigen Autofahrerin, die von links kam und Vorfahrt hatte. Die Wucht des Aufpralls war so groß, dass sich die schwere Geländelimousine der 36-Jährigen überschlug. Sie kam verletzt ins Krankenhaus. „Es gab keine Hinweise, dass jemand zu schnell war“, sagt Polizeisprecherin Ackermann, „es blieb auch unklar, warum sich das Fahrzeug überschlagen hat.“

Jetzt will die Polizei stärker kontrollieren

Eine große Gefahr für Passanten sieht die Stadt nicht. „Fahrzeuge werden oft subjektiv schneller wahrgenommen als sie tatsächlich sind“, hatte der 28-jährige Anwohner vom Ordnungsamt zur Antwort bekommen. Das ging zumindest vor Weihnachten 2016 schief, als ein 37-jähriger abends bei den Kinos über die Straße wollte und von einem 28-jährigen Autofahrer, stadteinwärts unterwegs, erfasst wurde. Der Fußgänger kam schwer verletzt ins Krankenhaus.

Ein Einzelfall? „Ich beobachte von meinem Balkon aus öfters Beinaheunfälle“, sagt ein Anwohner. Und in einem dicht besiedelten Gebiet mit vielen jungen Familien bereiteten ihm die Auftritte der PS-Boliden in lauen Sommernächten große Sorge.

Verkehrsexperten sagen hinter vorgehaltener Hand, dass es in der Stadt „nach wie vor Wettrennen oder Solisten mit Testfahrten“ gebe. Es fehle der Kontrolldruck. Damit soll es in der Rosensteinstraße vorbei sein: Nicht nur das Revier, „auch die Verkehrspolizeidirektion wird verstärkt ein Auge auf die Strecke werfen“, kündigt Polizeisprecherin Ackermann an. Mit mobiler Überwachung per Laserpistole oder nächtlichen Anhaltekontrollen. „Es ist schade“, sagt ein Anwohner, „dass es erst Tote geben muss, bis die Statistik für Maßnahmen passt.“