Mit Blick auf die Home-Ehe rumort es in der Evangelischen Kirche. Foto: dpa

An der Basis der evangelischen Kirche rumort es. Und die Entfremdung in der Gesellschaft von der Institution Kirche schreitet nach dem Verbot der Homo-Ehe noch stärker voran, meint Redakteur Martin Haar.

Stuttgart - Im Rückblick werden viele Protestanten den 29. November 2017 als historisches Datum betrachten: An diesem Tag hat die Synode der württembergischen Landeskirche die Öffnung für eine öffentliche Segnung von homosexuellen Paaren verhindert. Der rechte Flügel des Kirchenparlaments, der Gesprächskreis Lebendige Gemeinde, hat durch sein Abstimmungsverhalten die Homo-Ehe blockiert. 33 Synodalen ging ein wohlaustarierter und kluger Kompromissvorschlag des Oberkirchenrates zu weit. Die nötige Zweidrittelmehrheit für eine Öffnung wurde nicht erreicht. Die Blockade brachte der Lebendigen Gemeinde einen Sieg. Doch allmählich wird immer deutlicher: Es war wohl ein Sieg mit großen Verlusten.

Denn aus der anfänglichen Apathie nach dem Beben erwachsen nun unterschiedliche Nachbeben. Die Folgen dieser Erschütterung sind für die Kirche derzeit nicht absehbar. Eines zeichnet sich aber schon jetzt ab: Die Entfremdung in der Gesellschaft von der Institution Kirche schreitet so noch stärker voran. Selbst Menschen, die der Kirche zugetan sind, stellen ihre Identifikation und ihr Mitwirken an der christlichen Glaubensgemeinschaft infrage und erwägen einen Austritt.

An der Basis rumort es

Aber nicht nur an der Basis des Kirchenvolks rumort es. Theologie-Studierende, Vikare, selbst Pfarrer denken über eine Flucht zu anderen Landeskirchen nach. Möglichkeiten der Arbeit und des Engagements gibt es genug. Fast alle Landeskirchen sind liberaler – nicht nur in der Homo-Frage. Württemberg ist so etwas wie ein schwarzer Fleck auf der Landkarte der Evangelischen Kirche in Deutschland. Der nun drohende Exodus wäre fatal. Schon jetzt ringt die Landeskirche um Fachkräfte. Zu Erinnerung: Der Pfarrplan 2024, der die Kirche verschlanken wird, ist nicht aus finanzieller Not geboren. Dank der guten Konjunktur schwimmen die Kirchen im Steuergeld. Der Nachwuchsmangel macht die harten Einschnitte des Pfarrplans nötig.

So weit die Zukunftszenarien. Entscheidender ist jedoch, wie Kirche und Gläubige im Alltag mit der Entscheidung vom 27. November im Stuttgarter Hospital umgehen. Während die einen auf die Kirchenwahl 2019 und die damit verbundene Hoffnung auf eine Abwahl der Lebendigen Gemeinde setzen, spielen manche Gemeinden und Pfarrer mit anarchischen Gedanken. In Fachkreisen wird dies die „katholische Lösung“ genannt. Römisch-katholisch deshalb, weil viele katholische Pfarrer in ihrem Alltag die Vorgaben aus Rom schlicht nicht beachten. Etwa das Verbot, Geschiedenen den Zugang zum Abendmahl zu gewähren, wird in der Praxis oft ignoriert. In dieser Weise wollen nun auch evangelische Pfarrer handeln. Ungeachtet des synodalen Beschlusses wollen sie homosexuelle Paare in der Kirche trauen.

Schwesig sucht Ausgleich

Landesbischof Frank Otfried July, der die Blockade der Konservativen zutiefst bedauert, kündigte schon kurz nach der Abstimmung an: „Wir können als Kirchenleitung nicht zulassen, dass das jeder individuell entscheidet.“ Doch auch in dieser Haltung gibt es keinen Konsens. Stuttgarts Stadtdekan Søren Schwesig fühlt sich zwar der Einheit von Kirche verpflichtet, aber er will Abweichlern in seinem Sprengel nicht mit dem „eisernen Besen“ begegnen. Stattdessen sucht er den Dialog und nach neuen Wegen. Dieser Umgang mit Menschen ist gerade in einer Zeit, in der die evangelische Kirche schwer erschüttert ist, sehr praxisnah und klug. Statt die Gräben zu vertiefen, sucht Schwesig den Ausgleich. Das Ganze gleicht zwar einem Spiel mit dem Feuer, aber die Geschichte zeigt: Manchmal ist Anarchie ein Weg in die Freiheit.

martin.haar@stzn.de