In Hedelfingen selbst gibt es ebenfalls viele schöne Ecken – zum Beispiel die Kreuzkirche. Sie ist ein Schmuckstück des Neuen Bauens, das Michael Wießmeyer besonders gut gefällt. Foto: factum/Weise

Zwischen Wald und Reben und stark befahrenen Straßen lebt es sich sehr gut in Hedelfingen. Das findet Michael Wießmeyer, der Vorsitzendes des Vereins Altes Haus.

Stuttgart-Hedelfingen - Wer mit Michael Wießmeyer durch Hedelfingen spaziert, sollte sich darauf einstellen, dass er den 53-Jährigen immer wieder mit anderen teilen muss. „Hallo Michael“ hier, „hallo Michael“ da – der Mann ist bekannt wie ein bunter Hund und hat mit allen möglichen Leuten gemeinsame Aktivitäten zu besprechen.

Dabei ist der kaufmännische Angestellte gar kein gebürtiger Hedelfinger. Aufgewachsen ist er in Bad Cannstatt, aber seit mehr als drei Jahrzehnten lebt er hier. Wießmeyer ist Hedelfinger mit Begeisterung. Für den Außenstehenden wirft das Fragen auf. In dem Neckarvorort liegen Licht und Schatten jedenfalls nah beieinander, angefangen bei der Verkehrslage und der Sozialstruktur.

Michael Wießmeyer gehört zu den Menschen, die sich lieber mit den erfreulichen Seiten der Dinge befassen, die anpacken und nicht lamentieren. Wenn er aus seiner Einliegerwohnung in der Ruiter Straße tritt und Richtung Dorfkern geht, kann er in einiger Entfernung die Lärmschutzwand an der B 10 sehen. An dieser Stelle schaut der 53-Jährige lieber nach links, auf die mattrot gestrichene Kreuzkirche.

„Ich bin ein Fan dieser Kirche“, sagt er über den Sakralbau, der im Stile des Neuen Bauens 1930 errichtet wurde. „Das ist Bauhaus pur – und keiner in Stuttgart weiß es“, sagt Michael Wießmeyer und zeigt auf Türklinken, Lampen und andere Details der Kirche, die im Original erhalten sind. Das Lichtband mit Glasmosaiken unter der Decke, das den Eindruck erweckt, als schwebe diese über den Wänden, hat es ihm angetan. „Da gehen einem die Augen über“, sagt er.

Industrielle Entwicklung hat Hedelfingen entscheidend geprägt

Der Vorsitzende des Vereins Altes Haus, der sich um die heimatkundliche Sammlung für Hedelfingen und Rohracker kümmert, hat etwas übrig für das Moderne. Die Kreuzkirche ist Industriearchitektur. Wießmeyer nimmt ein Foto zur Hand, es zeigt das Stahlskelett, das die Kirche trägt.

Die industrielle Entwicklung hat Hedelfingen entscheidend geprägt, hat das Dorf der nicht eben reich begüterten Kleinbauern und Weingärtner stark wachsen lassen, hat ihm einen Binnenhafen beschert und es zwischen stark befahrene Straßen gezwängt. Wenn Michael Wießmeyer diese großen Veränderungen anschaulich machen will, greift er zu seinem Tablet PC, den er bei sich trägt. Um 1900 wurden in Hedelfingen noch 80 Hektar Rebflächen bewirtschaftet, heute sind es 17. In Rohracker sind es nur noch acht.

Der Geschichtsenthusiast ist der Auffassung, dass man die Dinge ohne Verklärung sehen sollte. Natürlich schwärmt er, wenn er vor der um 1600 erbauten Kelter steht, von den schönen alten Gebäuden ringsherum. Wießmeyer kennt auch ein altes Foto aus den 30er-Jahren, das ein gebücktes Bäuerlein mit Strohhut zeigt, das sich, eine Trage voller Heu auf dem Rücken, die Heumadener Straße hoch schleppt. Die winzigen Häuschen Am Schießhaus, ein putziges Ensemble unweit der Kelter, von denen manche, zweigeschossig, nicht einmal 40 Quadratmeter haben, erzählen das Gleiche.

Diese historischen Schönheiten zu erhalten, die nicht mehr so ganz zu den praktischen Erfordernissen der Gegenwart passen, ist nicht einfach. Das gilt für die Weinberge wie für die Architektur im Ort gleichermaßen. Gerhard Haidle, einer von nur noch drei Vollzeitweingärtnern in Hedelfingen, der dreieinhalb Hektar Rebfläche bewirtschaftet, ist eher einsilbig, wenn man ihn nach dem Geschäft fragt. „Alles wird teurer, nur unsere Erlöse bleiben gleich“, sagt der 60-Jährige. Er wartet hier in der Kelter auf den Getränkelieferanten. Am Wochenende ist wieder Weinwandertag gewesen, jetzt muss das Leergut abgeholt werden. Man hat den Besuchern wieder allerlei geboten, ihnen vorgeführt, wie die Trockenmauern, die die steilen Rebhänge über Hedelfingen und Rohracker halten, gebaut werden. „Jeder will eine schöne Landschaft, aber nichts dafür zahlen“, sagt Haidle grimmig.

Michael Wießmeyer kennt das, er hat selbst 25 Jahre lang nebenher einen Weinberg bewirtschaftet. Der Aufwand, die Auflagen: abgehakt. Der 53-Jährige schwärmt lieber über den Kreisverkehr in der Rohrackerstraße, der mit Trockenmauern in Schneckenform und in traditioneller Bauweise gestaltet ist. „40 Tonnen Stubensandstein“, sagt Wießmeyer anerkennend.

„Gut lebt es sich hier“

An der Rohrackerstraße lassen sich am schlechten Zustand etlicher Häuser die Folgen des Verkehrs ablesen. Aber eine Straße weiter sieht die Welt oft schon wieder anders aus. Da stehen ein paar schmucke Gebäude, ein paar Neubauten im Ortskern gibt es auch. Ähnlich ist das Nebeneinander in der Höhe über dem Neckartal, im „Stücklesland“, wie Michael Wießmeyer die Gartenlandschaft nennt, wo früher ebenfalls Wein angebaut wurde. Die eine Fläche verwildert, die nebenan ist tipptopp gepflegt. Der 53-Jährige hält sich an letztere. „Das ist erstaunlich, dass da oben überhaupt noch was geht“, findet er. Das hohe Grün rechts und links der schmalen Wege ist um diese Jahreszeit saftig und frisch.

Zum Abschluss doch noch ein Abstecher hinter die Lärmschutzwand an der B 10. Über dem Hinterhof eines Reihenhauses stehen Kurt und Heidi Zaiser auf dem Balkon, man kennt sich. „Gut lebt es sich hier“, sagt Kurt Zaiser. Seit 1965 wohnt der Elektriker mit seiner Frau an der Friedrichshafener Straße. Der Lärm der B 10 werde von der Schallschutzwand gemildert. Wenn nur nicht die krachenden Lastwagen auf der Straße am Hafen wären. Im Moment ist für Kurt Zaiser etwas anderes wichtig: die Bäume an der Lärmschutzwand sind weg. „Dadurch“, sagt Zaiser, „haben wir einen wunderschönen Blick auf den Rotenberg.“