Die drei Stuttgarter Krebsmediziner Gerald Illerhaus, Hans-Georg Kopp und Walter Erich Aulitzky Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Krebs erweist sich als hartnäckiger Gegner. Im Interview erklären die Leiter der beiden Tumorzentren in Stuttgart, wie man Krebs am effektivsten bekämpft und was bei der Nachsorge dringend verbessert werden muss.

Stuttgart - Jedes Jahr erkranken in Deutschland rund eine halbe Million Menschen an einer Krebserkrankung. Die Diagnose macht Angst. Umfragen zufolge gehört Krebs zu den Leiden, vor denen man sich am meisten fürchtet. Dabei ist Krebs kein Todesurteil mehr. Rund 60 Prozent der Patienten werden geheilt oder sterben aus anderen Gründen als am Tumor selbst. Im Interview erklären Gerald Illerhaus, Leiter des Stuttgart Cancer Center – Tumorzentrum Eva Mayr-Stihl am Klinikum Stuttgart, Walter Erich Aulitzky und Hans-Georg Kopp, beide Krebsmediziner vom Robert Bosch Centrum für Tumorerkrankungen (RBCT) am Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart, wie man Krebs am effektivsten bekämpft und was bei der Nachsorge dringend verbessert werden muss.

Die Zahl der Krebserkrankungen steigt: Was sind die Gründe?
Aulitzky Ein großer Teil der tumorverursachenden Mutationen geht auf die innere Uhr zurück, die der liebe Gott in uns eingebaut hat. Die Zellteilung funktioniert nicht mehr so gut, weshalb dann mal etwas Unangenehmes passieren kann. Aber auch Umweltfaktoren sind die Ursache – etwa UV-Licht. Und es gibt Mutationen, die vielleicht irgendwelchen Ereignissen im Leben des Betroffenen geschuldet sind. Aber auch der Lebensstil führt zu Krebs: Rauchen und Übergewicht.
Mit welchen Krebsarten lässt es sich leben?
Illerhaus Hämatologische Krebserkrankungen – wie etwa Leukämie oder Lymphome – können recht häufig geheilt werden. Aber auch bei Tumoren gibt es Heilungserfolge, wenn sie früh genug entdeckt und behandelt werden. Ich denke, dass sich die Prognose von verschiedenen Krebserkrankungen drastisch verbessert hat, liegt auch am Zusammenspiel von Strahlentherapie, Chirurgie und Chemotherapie.
Dennoch sind viele Krebsarten kaum heilbar – warum ist die Erkrankung so schwer zu fassen?
Aulitzky Krebs ist eine wild gewordene Evolution im Körper: Eine Zellfamilie entwickelt die Fähigkeit, sich rasch zu verändern und sich viele Körpermechanismen zunutze zu machen. Sitzt diese Zellfamilie an einer Stelle, an der sie sich gut wegschneiden lässt, ist es relativ unproblematisch. Breitet sich die Zellfamilie im Körper aus, versucht man mit Medikamenten jede dieser Zellen abzutöten – ohne andere Körperzellen zu vernichten. Aber weil Krebszellen oft zig verschiedene Möglichkeiten haben, sich ekelhaft zu verhalten, ist es schwer, ein Medikament zu finden, das allen möglichen Situationen gerecht wird. Eine Wunderpille gegen Krebs wird es daher nicht geben. Aber die Therapiemethoden werden sehr viel besser werden, da inzwischen bei Krebserkrankungen sehr viele Angriffspunkte bekannt sind.
Die Zulassung neuer Medikamente dauert in Deutschland vergleichsweise lange. Obendrein sind sie sehr teuer. Warum ist das so?
Kopp Inzwischen hat die Europäische Arzneimittelbehörde da deutlich aufgeholt. Teilweise sind hierzulande Medikamente schneller verfügbar als in den USA. Die Preisentwicklung ist sehr schwierig zu beurteilen: Denn die in Studien durchzuführende klinische Prüfung ist sehr teuer. Aber wir haben in Deutschland seit einigen Jahren eine Behörde, die einen richtigen Schritt macht: nämlich zu prüfen, welchen Zusatznutzen ein Medikament bringt. Ist dieser geklärt, kann man über den Preis verhandeln.
Illerhaus Die Preisentwicklung und die lange Zulassungsdauer hängt überwiegend mit unseren strengeren Regularien zusammen. So gibt es Medikamente, die sehr schnell zugelassen werden und nicht erst durch klinische Studien müssen. Andere Medikamente müssen ihren marginalen Vorteil gegenüber schon zugelassenen Krebsmedikamenten über Jahre hinweg in Studien beweisen.
Kopp Es ist selbst für Fachleute schwer nachzuvollziehen, warum manche Medikamente einen Zusatznutzen haben und andere nicht. Aber meiner Erfahrung nach bekommt man ein noch nicht zugelassenes Medikament – wenn die Aussicht besteht, dass in einem Einzelfall dieses von Nutzen ist.
Aber bekommt jeder Patient auch das Medikament, das ihm hilft?
Aulitzky Es ist nicht hundertprozentig sichergestellt, dass keiner eine Chance verpasst. Es ist stets ein großer Aufwand. Zunächst einmal braucht es einen Arzt, der sich so gut auskennt, dass er den Patienten auf den Nutzen eines noch nicht zugelassenen Medikaments hinweisen kann. Dann braucht es einen zweiten Arzt, der sich die Mühe macht, die Kassen von der Notwendigkeit einer solchen Behandlung zu überzeugen.
Inzwischen macht die Immuntherapie bei der Behandlung von Krebs Schlagzeilen. Ist das wirklich die neue Superwaffe gegen Krebs?
Illerhaus Das Prinzip der modernen Immuntherapie hat die Krebsbehandlung vorangetrieben. Wir können mit milden Maßnahmen das Immunsystem in Gang setzen, das sich gegen den Krebs zur Wehr setzt. Der Nachteil ist, dass nur wenige Krebsarten davon profitieren,etwa Melanome und Lungenkarzinome sowie einige Hodgkin-Lymphome.
Neben der medizinischen Behandlung werden von Patienten auch integrative Behandlungsmethoden eingefordert – etwa aus der Naturheilkunde. Was können Kliniken da bieten?
Aulitzky Der Patient muss sagen können: Ich fühle mich gut betreut. Das beinhaltet zum einen die Kommunikation seitens des Klinikpersonals. Hier bräuchte es noch erhebliche Verbesserungen. Auch braucht der Patient Maßnahmen, die ihn für den Weg durch die Therapie stärken. Die Psychoonkologie kann helfen. Und es braucht die körperliche Seite der Therapie. Yoga etwa wirkt gegen das durch Krebserkrankungen hervorgerufene Erschöpfungssyndrom. Auch gibt es weitere naturheilkundliche Verfahren, die so gut sind, wie die der Schulmedizin: Statt einem Patienten ein Schlafmittel zu geben, hilft auch eine Lavendelauflage.
Aber es gibt auch alternative Verfahren, die eher kritisch anzusehen sind.
Aulitzky Ja, weil sie mit übermäßigen Heilversprechen verbunden sind. Es handelt sich dabei meist um Maßnahmen, für die es eine gewisse wissenschaftliche Logik gibt. Für die es auch Erfahrungsberichte gibt, die meistens aber nicht sehr gut dokumentiert sind. Der Klassiker ist Methadon. Es hat Hoffnungen geweckt, weil es nahezu als Heilversprechen dargestellt wurde.
Illerhaus Es gab Tage in der Ambulanz, an denen wir mit den Patienten nur über Methadon diskutiert haben. Unsere Position ist klar: Solange die Wirkung nicht bewiesen ist, werden wir es nicht empfehlen. Man muss diese Patienten aber ernst nehmen und sich als Arzt die Zeit nehmen, sie zu überzeugen und mögliche Alternativen aufzuzeigen.
Die fehlende oder mangelhafte Nachsorge von Langzeitüberlebenden steht häufig in der Kritik. Wie zeigen sich die Probleme?
Kopp Betroffen sind beispielsweise Patienten, die im Kindesalter an Krebs erkrankt sind und deren Nachsorge dann von Erwachsenenmedizinern übernommen wird. Dieser Übergang verläuft meist holprig. Wir wissen, dass Patienten, die als Kind Krebs überlebt haben, später häufiger arbeitslos werden oder einer niederen Einkommensgruppe angehören. Diese Dinge gehen weit über das Medizinische hinaus. Daher ist es sinnvoll, für Langzeitüberlebende einen Survivor-Care-Plan auszuarbeiten.
Wie sieht die Nachsorge bei Erwachsenen aus?
Aulitzky Auch nicht sehr gut. Eine Chemotherapie macht einen Menschen acht bis zehn Jahre älter, eine Bestrahlung bringt ein höheres Krebsrisiko. Die Patienten brauchen 20 Jahre später eine andere Gesundheitsvorsorge als der Durchschnittsbürger. Doch die findet nicht statt. Sie gehen zurück zu den Hausärzten, die nicht immer genau wissen, mit welchen gesundheitlichen Problemen die Patienten bald einmal konfrontiert sein werden. Und die Ärzte in den Tumorzentren, die es wissen müssten, können keine Nachsorge machen. Auch die Patienten selbst scheuen sich, zur Vorsorge zu gehen.
Wie könnte man das ändern?
Aulitzky Zum einen müssen Hausärzte besser zur Nachsorge von Krebspatienten befähigt werden. Auch sollte man Patienten und deren Umfeld dazu ermutigen, auf Risikofaktoren zu achten. Ein bestrahlter Mensch, der weiterraucht, spielt russisches Roulette mit vier Kugeln. Der bräuchte jemanden, der sagt: Lass das bleiben.
Kopp Die Uniklinik Tübingen hat beispielsweise eine Tumornachsorge für eine Zeitdauer von zehn Jahren etabliert.
Illerhaus Auch bei uns macht die Nachsorge einen Großteil unserer Ambulanzpatienten aus. Im Normalbetrieb ist dies aber alles eine Frage der Kosten. Nachsorge wird schlecht vergütet und nimmt viel Zeit in Anspruch.
Was tun Sie noch, um diese Probleme in der Klinik zu verringern?
Illerhaus Wir haben zwar noch kein festes Programm, aber sehr engagierte Ärzte, die den Übergang bei Kinder- und Jugendlichen zur Erwachsenenmedizin begleiten. Zudem haben wir Kooperationen mit Stuttgarter Praxen, die sich in der Betreuung beteiligen.
Kopp Für die stationären Patienten halten Kliniken mittlerweile einen Sozialdienst vor, der beispielsweise Schnellverrentungen verhindert und bei Dingen wie beruflicher Wiedereingliederung unterstützt. Die Politik muss wissen, dass hier im ambulanten Bereich ein nicht gedeckter Bedarf besteht.
Aulitzky Alle Patienten, die eine Krebserkrankung im Alter von Mitte 40 ereilt, haben massive ökonomische Einschränkungen. Das wird unterschätzt. Weshalb wir eine Stelle dafür eingerichtet haben, um den Menschen zu helfen, die aus dem Beruf fliegen und kaum ökonomische Reserven aufgebaut haben. Auch seitens des Gesundheitssystems könnte man Wege finden, um gerade junge Patienten wieder zu fördern – ohne die Kosten wesentlich zu steigern. So halte ich die derzeitige Rechtslage, dass es keinen Halbtagskrankenstand gibt, für unsinnig. Ich verstehe nicht, warum junge Krebspatienten nicht teilweise krank geschrieben werden können, etwa in den Wochen der Therapie.
Im nationalen Krebsplan steht, dass ein Drittel der Krebserkrankungen hätte vermieden werden können, wenn die Menschen zur Vorsorge gegangen wären. Ist die Früherkennung ausreichend?
Illerhaus Die Maßnahmen an sich sind gut. Problematisch ist: Die Leute gehen nicht gern zum Arzt. Dabei sollte jeder einmal pro Jahr zum Arzt und eine kleine Checkliste abarbeiten. Auch ist die Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Vorsorgezu zurückhaltend. Da müsste man provokanter vorgehen.
Haben Sie den Krebs verstanden?
Aulitzky Wir haben das Prinzip dieser Krankheit verstanden. Aber das erlaubt mir nicht, Vorhersagen zu treffen. Wenn ein Patient mit Krebs vor mir sitzt, so kann ich ihm nicht sagen, ob er wieder gesund wird.
Illerhaus Krebs zu begreifen, bedeutet für mich, die Erkrankung im Körper eines Menschen zu begreifen. Ein Patient, 89 Jahre alt, mit metastasierendem Darmkrebs hat eine andere Prognose und andere Bedürfnisse als ein 40-Jähriger mit derselben Diagnose.
Kopp Wir haben ein gutes Verständnis für die Vorgänge in einer Zelle, die dazu führen, dass diese sich krebsartig verhält. Aber wenn man dazu noch den ganzen Menschen mit seinen Zusatzerkrankungen betrachtet, seinem Alter und seinem Leben, da bin ich bei Herrn Illerhaus: Da hilft kein Algorithmus, da braucht es einen Onkologen.

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Zur Person:

Gerald Illerhaus ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Onkologie im Katharinenhospital,Klinikum Stuttgart, und Leiter des dort angegliederten Stuttgart Cancer Center.

Das Tumorzentrum wurde im Jahr 2012 mittels einer Spende in Höhe von 1,5 Millionen Euro aus der Eva Mayr-Stihl Stiftung Waiblingen eingerichtet.

Walter Erich Aulitzky ist Chefarzt der Abteilung Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin. Er ist seit 1996 im Robert-Bosch-Krankenhaus (RBK) tätig und hat als Leiter des zertifizierten Onkologischen Zentrums den Ausbau der Onkologie und Hämatologie am RBK begleitet.

Hans-Georg Kopp ist ab Februar 2018 Chefarzt der neuen Abteilungen Molekulare Onkologie und Pneumologische Onkologie. Er wird zudem klinischer Leiter des Robert Bosch Centrums für Tumorerkrankungen (RBCT). Zuletzt war er am Uniklinikum Tübingen Leiter des Bereichs Solide Tumore und Sprecher des Sarkom-Zentrums des Comprehensive Cancer Center (CCC) Tübingen-Stuttgart.

Das RBCT ist Partnerzentrum des Tumorzentrums CCC Tübingen-Stuttgart und Kooperationspartner des Deutschen Krebsforschungszentrums Heidelberg. Es wird von der Robert-Bosch-Stiftung unterstützt. (wa)