Feuerwehrleute sichern das eingestürzte Haus in der Altstadt von Marseille. Foto: dpa

Im Zentrum von Marseille sind drei Gebäude eingestürzt, haben bis zu acht Menschen unter sich begraben. Im gesamten Stadtgebiet gelten 40 000 Wohnungen als gefährlich. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.

Marseille - Staub und Schutt, mehr scheint nicht geblieben von den drei eingestürzten Gebäuden im Zentrum von Marseille. Doch der Eindruck täuscht. Unter den Bergen aus Gesteinsbrocken, geborstenen Balken, Rohrteilen und Fensterläden liegen Verschüttete. Bis zu fünf Menschen sind darunter noch begraben.

Drei Tote wurden in der südfranzösischen Großstadt bis Dienstagnachmittag geborgen, zwei Männer und eine Frau. Fünf weitere Personen werden noch vermisst. Eine Mutter zählt dazu, die ihr Kind nicht von der Schule abgeholt hat, oder auch ein Tellerwäscher, der in der Küche eines Restaurants nicht zur Arbeit erschienen ist. Vermisst werden dazuhin zwei Passanten. Aus Aufzeichnungen von Videokameras geht hervor, dass die beiden Sekunden vor dem Einsturz vor dem baufälligen Gebäude standen.

In einem Wettlauf mit der Zeit versuchen Rettungskräfte, zu den Opfern vorzudringen. Doch die 80 Feuerwehrleute und 120 Polizisten, die nach den Worten des an den Unglücksort geeilten französischen Innenministers Christophe Castaner im Einsatz sind, dürften in den meisten Fällen zu spät kommen. Mit Suchhunden streifen die Helfer durch die Mondlandschaft, die sich im von Armut und Einwanderung geprägten Stadtviertel Noailles auftut. Sie hoffen auf durchlüftete Hohlräume, in denen Opfer überlebt haben könnten. Dass es am Dienstag in Strömen regnet, lässt das Geschehen unweit von Marseilles Prachtstraße Canebière noch gespenstischer erscheinen.

Das erste eingestürzte Haus war schon 2008 für baufällig erklärt worden

Wie Kartenhäuser waren die rund 200 Jahre alten Gebäude der abschüssigen Rue d’Aubagne am Montag in sich zusammengefallen, eines nach dem anderen. Als erstes traf es um neun Uhr früh das vierstöckige Haus mit der Nummer 63. Die Stadtverwaltung hatte es 2008 für baufällig erklärt, Türen und Fenster mit Balken verriegelt oder zugemauert. Anrainer glauben freilich, Hausbesetzer hätten dort gleichwohl Quartier bezogen.

Der Einsturz destabilisierte das fünfstöckige Nachbargebäude mit der Nummer 65, das ebenfalls in sich zusammenfiel. Hinter einer Fassade, aus der Ende September Brocken auf den Gehweg gefallen waren, lebten dort in neun Wohnungen Paare und Familien. Am späten Montagnachmittag folgte das Haus Nummer 67. Ein Kran der Feuerwehr hatte der Fassade des leer stehenden Gebäudes einen Schlag versetzt.

Anwohner fürchten, dass noch weitere Häuser einstürzen könnten

Im der Nachbarschaft wächst die Angst, dass der Dominoeffekt anhalten, weitere Häuser einstürzen könnten. Im Stadtviertel Noailles gelten 48 Prozent des Baubestands als heruntergekommen und menschenunwürdig. Laut einer 2015 durchgeführten Erhebung des Wohnungsbauministeriums lebten in Marseille seinerzeit 100 000 Menschen in 40 000 unter gesundheitlichen wie bautechnischen Gesichtspunkten gefährlichen Wohnungen.

Es wächst der Zorn. Er gilt zunächst den Hausbesitzern von Noailles, die sich angesichts des fortschreitenden Verfalls ihrer einst stattlichen Bürgerhäuser bei Reparaturarbeiten auf das absolute Minimum zu beschränken pflegen. Er gilt aber auch der Stadtverwaltung, die sich bei der Sanierung der maroden Altstadt wie auch beim Sozialwohnungsbau zurückhält. Patrick Lacoste von der Bürgerinitiative „Ein Stadtzentrum für alle“ beklagt die Nachlässigkeit, mit der die Stadt die im Grundsatz bereits vor 20 Jahren beschlossenen Sanierung betreibe.

Die Staatsanwaltschaft hat die Suche nach Schuldigen aufgenommen

Florent Houdmon, der für die Stiftung Abbé Pierre im Großraum Marseille gegen Armut und Wohnungsnot zu Felde zieht, wirft der Stadt vor, viel zu wenig Sozialwohnungen bereitzustellen. Weil sie fehlten, hätten viele Menschen keine andere Wahl, als in baufällige Häuser zu ziehen, sagt Houdmon. Der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon spricht aus, was viele Bewohner Marseilles denken: „Es stürzen die Häuser der Armen ein, das ist kein Zufall.“ Die Staatsanwaltschaft hat die Suche nach Schuldigen aufgenommen. Sie ermittelt wegen fahrlässiger Tötung.

Marseilles stellvertretende Baubürgermeisterin Arlette Fructus verweist derweil auf die starken Regenfälle der vergangenen Tage, die das Drama hervorgerufen hätten. Zeugenaussagen scheinen dies zu belegen. Der Bewohner eines der eingestürzten Häuser, der zur Unglückszeit unterwegs war, berichtete von Rissen, die sich zwei, drei Tage zuvor in den Wänden aufgetan hätten sowie einer Haustür, die nicht mehr in den Rahmen gepasst habe, sich nicht mehr habe schließen lassen. Was freilich nichts daran ändert, dass die über die Wetterverhältnisse informierte Stadtverwaltung den Dingen ihren verhängnisvollen Lauf gelassen hat.