Treffsicherer Werfer und emotionaler Einpeitscher: Der deutsche Kapitän Uwe Gensheimer will unbedingt den Titel. Foto: Getty

Die Vorrunde ist überstanden, die Basis gelegt – an diesem Samstag wollen die deutschen Handballer zum Start der Hauptrunde bei der Handball-WM ihre Erfolgsgeschichte fortschreiben. Dabei halten sie gleich fünf Trümpfe in der Hand.

Köln - Über den Wolken herrschte im Flieger der deutschen Handball-Nationalmannschaft auf dem Weg von Berlin nach Köln Hochstimmung. Nach der überzeugenden WM-Vorrunde geht die DHB-Auswahl mit breiter Brust in den Kampf um die Halbfinal-Tickets. Vor dem ersten Hauptrundenspiel gegen Island an diesem Samstag (20.30 Uhr/ARD) hat das Team von Bundestrainer Christian Prokop fünf Trümpfe in der Hand.

Der Heimvorteil

Das Fieber steigt: 13 500 ekstatische Zuschauer peitschten die deutschen Handballer in Berlin nach vorne – sogar 19 000 werden es in der Hauptrunde in Köln sein. „Die Fans sind mega, sie unser achter, neunter, 14. Mann“, schwärmt Keeper Andreas Wolff. Der Heimvorteil ist in jeder Sportart wichtig – im Handball scheint er von besonders großer Bedeutung zu sein. Der deutsche Titelgewinn bei der Heim-WM 2007 ist ein leuchtendes Beispiel. Auch Schweden (1954), Frankreich (2001, 2017) und Spanien (2013) triumphierten als Gastgeber. Selbst Katar holte 2015 bei der WM in Doha Silber. Woran das liegt? Bei den Gründen kommen schnell auch die Schiedsrichter ins Spiel: Sie sind im Handball traditionell ein großer Faktor. Treffen annähernd gleich starke Teams aufeinander, kommt es in den Spielen zu 20 Situationen, die von der Auslegung der Regeln abhängig sind. Das betrifft das passive Spiel, Stürmerfouls und falsche Sperren, die sehr strikt oder liberaler interpretiert werden können. Dennoch sagt DHB-Vizepräsident Bob Hanning: „Es wäre ein Traum, wenn wir das Turnier mit einem Auswärtsspiel beenden können.“ Warum? Weil am 27. Januar im dänischen Herning das WM-Finale stattfindet.

Der Kapitän

Uwe Gensheimer ist die Konstante im deutschen Spiel. Der Kapitän hat mit Abstand die meisten Tore erzielt. Voller Entschlossenheit geht er in die Lücken. Aus unmöglich erscheinenden Winkeln zwirbelt er die Bälle an den Torhütern vorbei, als seien seine Knochen im rechten Handgelenk aus Gummi. Seine Wurfeffizienz liegt bei 81 Prozent. Auch die Siebenmeter verwandelt er meist sicher. Neuerdings präsentiert er sich zudem als Einpeitscher, hebt die Arme Richtung Tribüne und stachelt das Publikum an. Der 32-Jährige strotzt nach einer überragenden Saison bei seinem Verein Paris Saint-Germain vor Selbstbewusstsein – und seine Gier nach Gold ist riesig: Beim Wintermärchen 2007 stand er nicht im Kader, beim EM-Triumph 2016 fehlte er verletzt. Der beste Linksaußen der Welt will endlich seinen ersten großen Titel mit dem Nationalteam gewinnen.

Die Defensive

Vor allem in Verbindung mit Torwart-Titan Andreas Wolff ist die Abwehr eindeutig der stärkste Mannschaftsteil. „Die Deckung hat in allen Spielen ausnahmslos von der ersten Sekunde an funktioniert“, sagt Teammanager Oliver Roggisch, der als Defensivstratege maßgeblich am WM-Titel 2007 beteiligt war. Seine Nachfolger übertreffen ihn aber an Qualität, da sie auch mit weniger Zeitstrafen auskommen. Am Innenblock mit Patrick Wiencek (zwei Meter groß, 109 Kilo schwer) und Hendrik Pekeler (2,01 Meter/101 Kilo) gibt es kaum ein Vorbeikommen. Beide stehen genauso wie Wolff beim THW Kiel unter Vertrag. Ihre Eingespieltheit ist ein Riesenvorteil, weshalb Finn Lemke bislang eine eher untergeordnete Rolle spielt.

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Der „Aggressive Leader“ von der MT Melsungen, der die Mannschaft aufrüttelt, wenn es mal nicht so läuft, bleibt der 2,10-Meter-Riese dennoch. Weiterer Vorteil: Bundestrainer Prokop ist in Sachen Abwehrphilosophie flexibler geworden. Neben der 6:0-Formationen hat er eine offensive 3:2:1-Formation im Programm. Dabei attackiert der vorgezogene Mann die Gegner schon zehn, elf Meter vor dem Tor und stört damit den Spielfluss.

Der Zusammenhalt

Die Story der Bad Boys ist auserzählt. Jeder Spieler weiß, dass er mit dem Gewinn der Heim-WM eine neue, noch imposantere Geschichte schreiben kann. Schon allein diese Aussicht, Legendenstatus zu erreichen, schweißt zusammen. Die Körpersprache ist eine ganz andere als beim EM-Flop 2018 in Kroatien. Jetzt wird wieder abgeklatscht, aufgemuntert, mitgerissen. Auf dem Spielfeld und auf der Bank. Besonders deutlich wird das bei den Torhütern Andreas Wolff und Silvio Heinevetter: Mal puschen sie sich, mal trösten sie sich, obwohl sie nicht die besten Kameraden sind. Die Mannschaft ist wieder eine verschworene Gemeinschaft. Der Geist vom EM-Titel 2016 ist wieder zurück.

Der Lerneffekt

Die Fähigkeit zu lernen ist keine Frage des Alters. Schon gar nicht, wenn man wie der Bundestrainer erst 40 Jahre alt ist. Christian Prokop hat sich gewandelt: Er hat die Leichtigkeit entdeckt. Er hat gelernt, auch mal loszulassen und seinen Spielern Vertrauen zu schenken, nachdem er sein erstes Turnier vor einem Jahr im Übereifer angegangen war, verkrampft, verkopft, zu detailversessen. Prokop 2.0 wirkt wie ausgewechselt. Er ist offener geworden, kommunikativer, souveräner. Er bindet die erfahrenen Spieler mehr in seine taktischen Überlegungen mit ein. „Das ist der Christian Prokop, den wir unbedingt als Bundestrainer wollten“, sagt DHB-Vizepräsident Bob Hanning. Doch auch die Mannschaft ist auf den Trainer zugegangen. Deshalb hat sich die Beziehung entwickelt und ist inzwischen von gegenseitigem Vertrauen geprägt. Die richtigen Stresstests werden aber erst noch kommen. Wenn die Mannschaft noch abgezockter wird, lernt, ihre Nerven zu bewahren und nach einer Führung den Sack zuzumachen, steht einer erfolgreichen Titeljagd nichts im Weg.