Corinna Harfouch in „Wassa Schelesnowa“ Foto: dpa

Stark und verletzlich sind die Frauen­figuren, die Corinna Harfouch vor der Filmkamera und auf der Theaterbühne verkörpert. Der Stuttgarter Regisseur Stefan Kimmig gibt Harfouch in seinem Blick auf „Wassa Schelesnowa“ viel Raum.

Stark und verletzlich sind die Frauenfiguren, die Corinna Harfouch vor der Filmkamera und auf der Theaterbühne verkörpert. Der Stuttgarter Regisseur Stefan Kimmig gibt Harfouch in seinem Blick auf „Wassa Schelesnowa“ viel Raum.

Berlin - Maxim Gorkis „Wassa Schelesnowa“ ist derzeit ein Prunkstück des deutschen Theaters. Vor zwei Jahren nahm Alvis Hermanis an den Münchner Kammerspielen die frühe Fassung von 1910 zur Hand und gewann daraus ein hyperrealistisches Destillat, ein rechtes Bühnengemälde, in dem sich famose Schauspieler in einem detailreichen Bühnen-Wimmelbild einen stillen, vom Summen des Samowars untermalten Kampf aller gegen alle lieferten. Jan Neumann fertigte zum Saison-Auftakt in Bochum aus dem Stoff ein Sittenbild des Putin-Russland mit Suff und blanken Femen-Busen und allerhand Rock’n’Roll.

Stephan Kimmig und die Seinen schlagen sich jetzt am Deutschen Theater in Berlin in ganz anderer Richtung durch das Familiendickicht der Vorlage. Hatte der Lette Hermanis in München mit opulentester Ausstattung, in der das Mieder der Patronin wie das Löschpapier auf dem Schreibtisch historisch abgepaust wirkte, aufs Schönste die Peter-Stein-Tschechow-Sehnsucht der deutschen Zuschauer umkost und daraus den Fond gewonnen, vor dem sich die Brutalität und Härte des Spiels umso kantenschärfer abhoben, erzählt der Schwabe Kimmig die sehr nüchterne Niedergangsgeschichte eines deutschen Familienunternehmens. Genauer gesagt, das, was der Niedergang des auf Ausgleich bedachten rheinisch-berlinischen Kapitalismus bei Unternehmers zu Hause anrichten kann.

Statt zu arbeiten, techtelt und mechtelt jeder mit jedem

Die Fassung von Chefdramaturgin Sonja Anders banalisiert Gorkis Sprache, aus der Reederei wird ein Logistikunternehmen, der Chef stirbt unsichtbar und andauernd im Hinterzimmer, die Chefin sperrt sich gegen Innovationen, die dringend notwendig wären, um sich der Konkurrenz „der Großen“ zu erwehren. Ebenso andauernd wie folgenlos fordert sie von ihrer Mischpoke: „Geh arbeiten!“ Familie wie Angestellte hängen lieber zwischen den abstrahierenden Stahlgestängen herum, die Katja Hass samt Requisitentischen und Garderobenständer als Laborraum auf die Bühne gesetzt hat.

Statt zu arbeiten, techtelt und mechtelt hier eigentlich jeder mit jedem. Wassas Schwager Prochor (Michael Goldberg), dessen Drohung, das Geld aus der Firma zu ziehen, die ökonomische Krise zusätzlich verschärft, hat ein Verhältnis mit Ljudmilla (Katharina Marie Schubert), Verwaltertochter und Ehefrau von Sohn Pawel (Alexander Khuon). Der wiederum bändelt mit Natalja (Lisa Hrdina) an, der Frau seines unfähigen Bruders Semjon. Wassa, die Chefin selbst, tauscht Küsse mit dem Verwalter (Bernd Stempel). Und die aus einer gescheiterten und von Muttern nicht gebilligten Ehe nach Hause zurückkehrende Tochter Anna (Franziska Machens) schmust mit dem Assistenten Alexander (Marcel Kohler), der im Deutschen Theater Gorkis verschiedene Dienstmägde zusammenfassend ersetzt.

Diese allgemeine Tändelei siedelt zwar TV-Serien-mäßig nah an der Banalität, wirkt jedoch am Deutschen Theater zugleich wie ein ruhiger Fluss, aus dem die immer wieder jäh ausbrechende Gewalt wie ein tückisches Krokodil hervorbricht. Denn ein jeder hier lauert auch auf das Erbe, das der sterbende Vater hinterlassen wird. Und dieses Erbe, das möglicherweise längst verspielt ist oder von Wassa und dem Verwalter beiseitegeschafft wurde – die Inszenierung lässt das offen –, zu verteidigen, zeigt sich ein jeder allzeit bereit zu Verrat, Giftanschlag oder sonstigen Abscheulichkeiten.

Keiner ist nur böse oder bemitleidenswertes Opfer

Es ist das besondere Verdienst dieser Arbeit, dass es Kimmig und den Seinen gelingt, die Figuren trotzdem widersprüchlich zu zeichnen. Keiner erscheint bloß als böse oder bloß als bemitleidenswertes Opfer. Dazu verpassen Christoph Franken als Semjon mit seinem nervtötend hohen Pfeifen und Katharina Marie Schubert als Ljudmilla mit einer tränenumflorten Wunderlichkeit ihren Figuren absonderliche Ticks, die helfen, darstellerische Einfältigkeit zu vermeiden. Besonders Alexander Khuon sticht unter den Nebenfiguren hervor. Sein Sohn Pawel, bei Gorki ein Buckliger, trägt die Verunstaltung auf der Seele. Jäh schlägt bei ihm kindliche Verlassenheit in Missmut und gefährliche Brutalität um.

Als „Oberschlange“ in der Schlangengrube hält Corinna Harfouch den Abend zusammen. Eine Stocknüchterne, sehr aufrecht, in knielangem Rock, wechselnden Pullovern, Stiefeln, die weiß, dass sie von ihrer Familie nichts zu erwarten hat. Liebende Mutter, die an der eigenen Brut, in durchaus unterschiedlichem Ausmaß, hängt, aber niemals bereit wäre, das sieche Unternehmen um ihrer Kinder willen aus der Hand zu geben. Harfouch bebt und zittert innerlich, aber sie fällt nicht.

In ihrem Spiel, in ihrer von Zärtlichkeits- und Verzweiflungsanfällen heimgesuchten Hartherzigkeit, schlägt das „eherne Gesetz der Ökonomie“ ins Private durch. Was muss, das muss, wer nicht mit mir ist, ist gegen mich und gegen das Unternehmen und muss beiseitegeschafft werden. Sei es in die Heilanstalt, die Armut oder schlimmstenfalls auch in den Tod. Harfouch, könnte man sagen, spielt eine Heldin der Alternativlosigkeit. Einmal ruft ihr Schwager Prochor angesichts der vorgeblich oder tatsächlich drohenden Pleite aus: „Man sollte es vielleicht wieder einmal mit dem Sozialismus versuchen!“ Aber naturgemäß ist das im Jahre 2014 im Deutschen Theater nur mehr ein bitterer ironischer Bezug auf die Hoffnungen, die Maxim Gorki 1910 noch im Herzen tragen konnte.