Hans Magnus Enzensberger Foto: picture alliance / dpa/Marcus Brandt

Zu seinem 90. Geburtstag hat Hans Magnus Enzensberger seinen Papierkorb geleert – „Fallobst“ heißt das neue Buch des Dichters, das von Sprachspielereien und Aphorismen bis hin zu trivialer Zeitgeistkritik reicht. Darin erfährt man, was Enzensberger alles nicht mag, nämlich: Motorradfahrer, Sportler, Halloween, das Rauchverbot, die postmoderne Kunst, das Finanzamt, Bürokraten, Banker und Journalisten.

Stuttgart - Neunzig Jahre – und kein bisschen weise? Doch, doch, Hans Magnus Enzensberger jedenfalls, der an diesem Montag diesen runden Geburtstag feiern kann, nimmt schon seit geraumer Zeit die Pose des erfahrungsgesättigten alten Mannes und abgeklärten Zeitgenossen ein, der schon zu viel gesehen hat, als dass ihn noch etwas aus der Ruhe bringen könnte. 1957, beim Erscheinen seines ersten Gedichtbands „verteidigung der wölfe“, war er von seinem Mentor Alfred Andersch noch als „zorniger junger Mann“ in die deutsche Literaturszene eingeführt worden. Ein Jahrzehnt später hatte ihn der Philosoph Jürgen Habermas als „zugereisten Harlekin am Hof der Scheinrevolutionäre“ abgekanzelt, als Enzensberger in der Studentenbewegung mitzumischen versuchte und sich als Revolutionstourist in Kuba aufhielt.

Doch spätestens seit Mitte der 1970er Jahre hat der Lyriker und Essayist, Übersetzer und Herausgeber eine Position eingenommen, die wie seine Lieblingsfigur, der fliegende Robert aus dem „Struwwelpeter“, über den Dingen und Zeitläuften schwebt. Es geht einem bei diesem Schriftsteller wie in der Geschichte vom Wettlauf des Hasen mit dem Igel: Während sich das Publikum wie der Hase abstrampelt, um auf der Höhe des Zeitgeists zu sein, ist Enzensberger wie der Igel immer schon eine Runde weiter.

Enzensbergers lyrisches „Fallobst“ erinnert an Goethe, Jünger, Lichtenberg

Man hat sich längst daran gewöhnt, dass jedes halbe Jahr mindestens ein neues Buch von Enzensberger aus seinem Hausverlag Suhrkamp in den Buchhandlungen liegt. Im Frühjahr war es eine „Experten-Revue in 89 Nummern“, die dem „Dämon der Arbeitsteilung“ gewidmet war und 89 Spezialisten der abseitigsten Fachgebiete porträtierte. Jetzt, pünktlich zum 90. Geburtstag, erscheint ein Buch unter dem Titel „Fallobst“, das man als eine Art Resteverwertung von Notizen bezeichnen kann, die normalerweise im Papierkorb landen. Und fürs kommende Frühjahr ist ein neuer Gedichtband angekündigt: „Wirrwarr“, mit Zeichnungen von Jan Peter Tripp.

Wer nichts wegwerfen kann, muss die in seiner Wohnung aufbewahrten Notizzettel eben irgendwann einmal als gedrucktes Buch entsorgen. Literaturwissenschaftler werden den Charakter dieses „Fallobsts“, das Enzensberger da in mehreren Körben gesammelt hat, historisch leicht einordnen können, und auf Pascals „Pensées“, Lichtenbergs „Sudelbücher“, Goethes „Maximen und Reflexionen“ oder Jüngers „Strahlungen“ als Vorbilder verweisen. Die Qualität dieser Aufzeichnungen ist unterschiedlich, reicht von Sprachspielereien und trivialer Zeitgeistkritik bis zu Aphorismen, die an das Niveau von Adornos „Minima Moralia“ heranreichen. Allmählich schälen sich beim Lesen Themen und Motive heraus, die einem aus Enzensbergers bisherigem Werk vertraut sind.

Für den Dichter ist Edward Snowden ein Held unserer postdemokratischen Zeit

Zur Tagespolitik äußerst sich Enzensberger schon lange nicht mehr. In seinem Alter, so heißt es an einer Stelle, habe man für dieses bürgerliche oder blutige Spektakel nur noch „ein Achselzucken, ein müdes Abwinken“ übrig. Doch dann blitzt gelegentlich doch noch der alte Zorn auf, etwa wenn es um die Geheimdienste und ihre neuen Überwachungstechniken im digitalen Zeitalter geht. Einen Whistleblower wie Edward Snowden jedenfalls hält er für einen Helden in der Ära des „postdemokratischen Regimes“ des 21. Jahrhunderts.

Ansonsten erfährt man, was Enzensberger alles nicht mag: Motorradfahrer, Sportler, Halloween, das Rauchverbot, die postmoderne Kunst, die Apostel der Digitalisierung, das Finanzamt, Bürokraten, Banker (vor allem die der Europäischen Zentralbank) und Journalisten (mit der Ausnahme von Frank Schirrmacher). Da wird wieder der Medientheoretiker sichtbar, der schon 1957 die Sprache des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ kritisch analysiert hatte. Und die noch frühere Erfahrung des Teenagers, der nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf dem Schwarzmarkt gedealt hatte und seither über die anarchische Resistenz der menschlichen Natur gegen jeden staatlichen Regulierungsversuch Bescheid wusste.

Hans Magnus Enzensberger: Fallobst. Nur ein Notizbuch. Suhrkamp Verlag, 368 Seiten, 30 Euro.

Hans Magnus Enzensberger: Eine Experten-Revue in 89 Nummern. Suhrkamp Verlag, 336 Seiten, 24 Euro.