Einpeitscher, Motivator, Führungsspieler: Dem 38 Jahre alten Torwart-Routinier Johannes „Jogi“ Bitter vom TVB Stuttgart kommt auch im Nationalteam eine Schlüsselrolle zu. Foto: imago/Tilo Wiedensohler

Schwere Mission für den neuen Bundestrainer: Alfred Gislason beruft vier Turnier-Debütanten in sein Aufgebot, darunter auch Marcel Schiller von Frisch Auf Göppingen. Was ist drin fürs deutsche Team bei der WM in Ägypten?

Stuttgart - Mit ernster Miene saß Alfred Gislason bei dem digitalen Medientermin in seinem Arbeitszimmer. Und eine der ersten Fragen an den Bundestrainer der deutschen Handball-Nationalmannschaft war die nach den Zielen bei der WM in Ägypten (13. bis 31. Januar 2021). Der Mann für Titel und Triumphe zögerte – nach einer kurzen Pause antwortete er dann: „Tja, das Ziel ist traditionell bei uns, möglichst das Halbfinale zu erreichen. In dieser Konstellation glaube ich aber nicht, dass es realistisch ist, erst mal.“

Keine Zielvorgaben

Dass der erfahrene Isländer keine großspurigen Kampfansagen von sich gab, ist wenig verwunderlich. Sein 20-köpfiges Aufgebot, das er am Montag bekannt gab, gleicht einer Wundertüte. „Wir haben eine komplett neue, teilweise unerfahrene Mannschaft, da werde ich keine Ziele vorgeben“, sagte der 61-Jährige. Durch die Abwesenheit der Stammkräfte Patrick Wiencek, Hendrik Pekeler, Finn Lemke, Steffen Weinhold und Fabian Wiede geht viel Qualität flöten. „Das, was uns weltweit den größten Respekt einbrachte, ist uns weggebrochen“, sagte der ebenfalls zugeschaltete Sportvorstand des Deutschen Handballbunds (DHB), Axel Kromer.

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Der 43-Jährige meinte den Innenblock in der Defensive. Der baumlange Modellathlet Sebastian Heymann wäre für das Abwehrzentrum eine durchaus wertvolle Alternative gewesen, weil er einer der wenigen deutschen Spieler ist, der in der Bundesliga Verantwortung auf dieser wichtigen Position übernimmt. Doch der 22 Jahre alte Rechtshänder von Frisch Auf Göppingen verzichtet wegen seiner Verletzungshistorie und mit Blick auf die hohe Turnierbelastung ebenfalls auf die Teilnahme. Wofür Kromer Verständnis aufbrachte: „Eine weitsichtige Entscheidung. Sebastian braucht Zeit, um stabil zu trainieren, wobei aber auch die Option besteht, ihn nachzuholen.“

Sechs Europameister von 2016

Immerhin stehen in Kapitän Uwe Gensheimer, den beiden Keepern Johannes „Jogi“ Bitter und Silvio Heinevetter sowie einem halben Dutzend Europameistern von 2016 (Andreas Wolff, Julius Kühn, Christian Dissinger, Kai Häfner, Tobias Reichmann und Jannik Kohlbacher) noch etliche etablierte Stammkräfte bereit.

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Sie müssen die Spieler ohne große internationale Erfahrung führen. Juri Knorr hat gerade mal zwei Länderspiele absolviert, die beiden DHB-Novizen vom Bundesligisten HC Erlangen, Sebastian Firnhaber und Antonio Metzner, noch gar keines. Und auch Marcel Schiller (neun Länderspiele), war noch bei keinem großen Turnier am Ball: „Ich bin mega glücklich und stolz, endlich bei einem internationalen Großereignis für mein Land spielen zu dürfen. Es gibt für einen Sportler nichts Größeres“, sagte der 29-jährige Torjäger von Frisch Auf Göppingen, der das Rennen auf der Linksaußen-Position gegen Patrick Zieker von TVB Stuttgart gewann. Schiller: „Ich werde alles dafür tun, um meine Chance zu nutzen.“

Breite Spitze als Plus

Beim Deutschen Handballbund setzt man auf die Ausgeglichenheit und das große Reservoir an Spielern in der Bundesliga: „Wir haben derzeit vielleicht nur wenige Weltstars dabei, aber wir haben eine breite Spitze“, betonte DHB-Sportvorstand Kromer. Der Verband setzt auf die Olympischen Spiele als zusätzliche Motivationsspritze. „Jetzt haben die Spieler die Chance, persönlich ihre Visitenkarte abzugeben.“

Zudem öffnete Kromer den freiwillig verzichtenden DHB-Stars ein Hintertürchen. So hätten alle Spieler die Chance, im weiteren Verlauf zum Team zu stoßen. Dazu habe man vom Weltverband IHF grünes Licht erhalten. Insgesamt kann Gislason während der WM fünf Wechsel in seinem Kader vornehmen, bei bisherigen Turnieren durften die Trainer nur dreimal tauschen.

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In die unmittelbare WM-Vorbereitung am 3. Januar in Neuss starten jedoch erst einmal die 20 am Montag nominierten Spieler. Für sie stehen zunächst zwei EM-Qualifikationsspiele gegen Österreich auf dem Programm. Am 6. Januar (13.45 Uhr) in Graz und am 10. Januar (18.10 Uhr) in Köln. Die Partien werden von ZDF und ARD jeweils live übertragen. Am 12. Januar fliegen die Nationalteams aus Deutschland und Österreich dann gemeinsam von Düsseldorf nach Ägypten. In der WM-Vorrunde trifft das DHB-Team auf Uruguay (15. Januar, 18 Uhr), Kap Verde (17. Januar, 18 Uhr) und Ungarn (19. Januar, 20.30 Uhr).

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Unabhängig von den widrigen Umständen will Gislason seine erste WM-Mission als Bundestrainer optimal bewältigen: „Das ist eine schöne und kreative Arbeit. Ich freue mich sehr auf die Aufgabe.“ Dabei huschte sogar ein kleines Lächeln über sein Gesicht.

WM-Aufgebot

Tor Andreas Wolff (KS Vive Kielce/Polen), Johannes Bitter (TVB Stuttgart), Silvio Heinevetter (MT Melsungen).

Linksaußen Uwe Gensheimer (Rhein-Neckar Löwen), Marcel Schiller (Frisch Auf Göppingen).

Rückraum links Julius Kühn (MT Melsungen), Paul Drux (Füchse Berlin), Fabian Böhm (TSV Hannover-Burgdorf), Christian Dissinger (Vardar Skopje/Nordmazedonien).

Rückraum Mitte Philipp Weber (SC DHfK Leipzig), Juri Knorr (GWD Minden), Marian Michalczik (Füchse Berlin).

Rückraum rechts Kai Häfner (MT Melsungen), David Schmidt (Bergischer HC), Antonio Metzner (HC Erlangen).

Rechtsaußen Tobias Reichmann (MT Melsungen), Timo Kastening (MT Melsungen).

Kreis Jannik Kohlbacher (Rhein-Neckar Löwen), Johannes Golla (SG Flensburg-Handewitt), Sebastian Firnhaber (HC Erlangen).