Enttäuscht: Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz nach dem Aus für die Olympischen Spiele in der Hansestadt Foto: dpa

Die Botschaft der Hamburger Bürger ist angekommen: Sie wollen keine Olympischen Spiele. Die Gründe sind vielschichtig. Auch die Verbände haben Fehler gemacht, meint der ehemalige deutsche Leichtathletik-Chef Helmut Digel.

Stuttgart - Enttäuscht, ratlos, schockiert: Die deutschen Sportler und Funktionäre sind nach dem Aus für die Olympischen Spiele in Hamburg 2024 fassungslos: „Das ist sehr schmerzlich, im Sport jagt zurzeit eine Katastrophe die nächste“, sagte Helmut Digel, langjähriger Sportfunktionär und ehemaliger Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV), gegenüber unserer Zeitung. „Das Tor zur olympischen (Sport-)Welt für immer geschlossen“, schimpfte Handball-Ikone Stefan Kretzschmar. Und Diskus-Olympiasieger Robert Harting meinte: „Ein Hamburger Desaster – welche Vision von sportlicher Zukunft verfolgen die Menschen in dem Land, für das ich kämpfe, überhaupt noch? Die Vision von McDonald’s und unbeweglichen Kindern, von dicken Kindern? Wahrscheinlich.“

51,6 Prozent der 651.589 Hamburger, die sich am Sonntag am Referendum beteiligten, waren gegen Olympische Spiele in ihrer Stadt. Nur 48,4 Prozent votierten nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis dafür. Die Spitzenfunktionäre suchten am Tag danach nach Erklärungen. Man müsse analysieren, was die Gründe waren, „und dann müssen wir auch die Konsequenzen daraus ziehen“, sagte Michael Vesper, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB).

Dessen Präsident Alfons Hörmann kündigte für die Mitgliederversammlung am Wochenende eine offene Zukunftsdebatte an. „Dabei wird vermutlich auch die Frage nach Konsequenzen gestellt“, sagte Rainer Brechtken unserer Zeitung. Doch zunächst muss „ich das erst einmal sacken lassen, bevor ich das Nein zu Olympia bewerte“, meinte der Präsident des Deutschen Turnerbundes (DTB). Noch halten die Reihen dicht, doch Insider vermuten, dass es in Hannover zu einer Generalabrechnung kommen könnte. „Eine Mitgliederversammlung ist sicherlich nicht der Ort, an dem man das Nein umfassend aufarbeiten kann“, sagte Helmut Digel, „aber ich hoffe auf eine intensive und kritische Beratung.“ Denn eine solche sei nötig.

Digel kritisiert Sportverbände

Der ehemalige Sportfunktionär, der im Sommer aus dem Council, einer Art Regierung des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF, ausgeschieden ist, kritisiert vor allem die Sportverbände. „Was haben denn die 28 olympischen Fachverbände für die Bewerbung geleistet?“ Sie hätten es nicht geschafft, für ihre Sache einzustehen, deutlich zu machen, dass sie die Spiele wollen, und ihre Mitglieder zu motivieren. „Mit mehr Unterstützung hätten sie es jeder Opposition schwer gemacht.“ Es wäre unter anderem die Aufgabe des DOSB gewesen, die Fach- und vor allem die Landesverbände zu mobilisieren. „Das wurde nicht geschafft, nur einige Athleten haben sich für die Spiele starkgemacht.“

Einen weiteren Fehler in der Bewerbung sieht Digel in der fehlenden Unterstützung der Bundesregierung. „Bis zum Schluss war durch deren fehlende Zusage die Finanzierung für die Spiele nicht geklärt“, meinte der ehemalige Möhringer Handballspieler. Außerdem ist das Instrument der Bürgerbeilung seiner Meinung nach nicht geeignet für ein Land wie Deutschland. „Ein Merkmal einer parlamentarischen Demokratie ist, dass unsere Parlamente durch die Wahl legitimiert sind, solche Entscheidungen zu treffen“, sagte er. Es komme ja nicht von ungefähr, dass Städte wie Paris oder Rom, die sich ebenfalls für die Spiele bewerben, die Bürger nicht befragen, und „das sind ja auch Demokratien.“

Digel: „Ich werde in meinem Leben keine Spiele in Deutschland mehr erleben“

Erst die Pleite in München mit der Ablehnung der Winterspiele 2022, zwei Jahre später das Aus für die Sommerspiele. Einigkeit herrschte in der Welt des Sports vor allem darin, dass die Wahrscheinlichkeit auf Olympia im Land wohl für Jahrzehnte gegen null gehen wird. „Ich werde in meinem Leben keine Spiele in Deutschland mehr erleben“, meinte der 71-jährige Digel. Das sei schade, denn das Hamburger Konzept sei kreativ und verantwortungsvoll gewesen.

Vor allem müsse der Sport nun sein Bild nach außen korrigieren. „Der Sport steckt in der Krise“, sagte Digel. National und international. Die Leichtathletik kämpft gegen Korruption und ein Dopingsystem, das immer dichter zu werden scheint, der deutsche Fußball leidet unter den Folgen der WM-Affäre, um nur zwei Beispiele zu nennen. „Das wirft ein schwieriges Licht auf den deutschen Sport“, analysierte Dagmar Freitag, die Sportausschussvorsitzende des Deutschen Bundestages. Vor allem wirken dadurch „die sachlichen Argumente nicht mehr. Der größte Teil der Funktionäre ist nicht korrupt, und die Mehrheit der Sportler sind keine Betrüger“, sagte Digel. Nun aber stehe Deutschland als Nation da, die solche Veranstaltungen nicht mehr haben wolle. Oder wie es Hockey-Olympiasieger Moritz Fürste drastisch formulierte: „Sport in Deutschland ist tot.“