Grigory Sokolov Foto: amc music

Der große Verweigerer unter den Pianisten hat in Stuttgart wieder einmal das Publikum verführt. Wie und warum das passieren konnte, bleibt ein Rätsel.

Stuttgart - Ein düsterer Grimm umweht den Mann, der von der rechten Seitentüre aus den weiten Weg über die Bühne geht. Mit leicht gebeugtem Nacken, fast mechanisch geht er und zielbewusst: wie wenn der Steinway dort ein riesiger schwarzer Magnet wäre, dessen Anziehung man sich auch dann nicht entziehen kann, wenn man nur so tut, als habe man ein Herz aus Stahl und eine Seele aus Eisen. Selbst die Verneigung Grigory Sokolovs hat etwas von einer Maschine. Seine Augen suchen nicht das Publikum. Er gibt keine Interviews, geht nicht ins Aufnahmestudio, entzieht sich dem Markt wie der Kommunikation, und als das Licht im Saal, wie er es stets veranlasst, einem diffusen Schummermodus gewichen ist, befindet sich der Mann, der erst vor wenigen Tagen seinen 66. Geburtstag feierte, endlich dort, wo er eigentlich ausschließlich sein will: in der Einsamkeit. Alleine mit sich selbst und der Musik.

Einer wie dieser Pianist, denkt man, ist ein Eremit. Der füllt keine Säle. Der mag zwar sechs Zugaben (von Schubert und Debussy) spielen, aber seine Auf- und Abtritte sind wie die Bewegungen einer jener mechanischen Spielzeugfiguren, die man durch das Drehen eines Rädchens am Rücken in Aktion bringt.

Von wegen. Grigory Sokolov ist einer der Künstler, die heute das Klassik-Publikum bei der Stange halten. Dass Worte wie Riese, Zauberer, Guru oder Mystiker Konjunktur haben, wenn von ihm die Rede ist, liegt dabei nicht an ausgestellter Virtuosität (viele von Sokolovs Kollegen spielen deutlich brillanter), sondern daran, dass im Inneren der Maschine ein Künstler haust, dem Einmaliges, weil Paradoxes gelingt: nämlich Teil des Klassik-Betriebes zu sein und sich dessen Gesetzen und Zwängen doch radikal zu verweigern; eine große Persönlichkeit zu sein und gleichzeitig ein Mann mit Maske, dessen Verweigerung nur einen dekorativen Teil seines Markenkerns ausmacht. Sokolov ist ein Phänomen, ein großes Rätsel.

Hingabe als Markenkern

Doch um ihn selbst, würde er sagen, wenn er denn etwas sagen würde, geht es ja gar nicht. Sondern um die Musik, der er sich hingibt. Also zum Beispiel um die Werke von Schumann und Chopin, später auch um die sechs Zugaben von Schubert und Debussy, mit denen er im „Meisterpianisten“-Zyklus am Donnerstag den fast voll besetzten Beethovensaal in Atem hielt. Auf Sokolovs Live-Mitschnitten, die zuletzt auf CD erschienen, mag man seinen Umgang mit den Tempi, sein häufiges Stauen und Beschleunigen des Zeitflusses, bemäkeln; im Konzert hingegen nimmt man dies, obwohl der optische Eindruck dem akustischen kaum Nennenswertes hinzufügt, nur als Marginalie wahr. Es muss wohl geheime Schwebungen geben, die den Eindruck derart verändern, dass man jetzt vor allem die großen erzählerischen Bögen hört. Schumanns Arabeske op. 18, ein ebenso hübsches wie harmloses Stückchen, lässt Sokolov wie ein Vorspiel wirken, das nahlos in das dramatische Weltgebäude der Fantasie op. 17 (ebenfalls in C-Dur) übergeht, die wiederum auf höchst poetische Weise gleichsam aus den Ruinen des ersten Satzes aufersteht.

Sokolov hält selbst das frei Assoziative mit eherner Hand und einem nie nachlassenden Sinn für Klarheit in der Stimmführung und einem auch in wildester Polyfonie kernigen Ton zusammen. Als im zweiten Programmteil Chopins etwa zeitnah zu Schumanns Werk entstandene zweite (b-Moll-)Sonate erklingt, wirkt diese zumal mit den hier monumental ausgespielten Crescendi ihres Trauermarsches wie ein zwingendes Gegenbild zum finalen Gleißen der Fantasie. Chopins kurzer Schlusssatz, eine lapidare Katastrophe, fegt alles Glück und Licht hinweg wie ein Tsunami. Ein Pianist, der dies spielt, ein Künstler, der dies so tief versteht wie Grigory Sokolov, müsste der Welt abhanden kommen. Wenn er es nicht schon wäre.