Es gibt schon einige verblüffende Parallelen zwischen den „Goldenen 20er Jahren“ und der heutigen Zeit. Foto: dpa/Frederic Batier

Vor einem Jahrhundert begannen die „Goldenen 20er Jahre“ - oder etwa nicht? Historiker sehen die Sache etwas anders. Und nicht einmal „Babylon Berlin“-Autor Volker Kutscher wünscht sich die damalige Zeit zurück.

Berlin - Promi-Spotting in Berlin - wo muss man denn da hin? Also: Samstag nachmittags empfiehlt sich das Stadion von Hertha BSC, da taucht regelmäßig Frauenschwarm Hans Albers auf. Eine Top-Adresse ist auch das Hotel „Adlon“. Charlie Chaplin ist hier immer mal wieder zu Gast, ebenso wie Hollywoodstar Douglas Fairbanks, der „Robin Hood“ aus dem gleichnamigen Kinohit. Wenn ein weißer Mercedes-Kompressor vor der Tür steht, kann man davon ausgehen, dass Fritz Lang gerade da ist, der Regisseur von „Metropolis“. Und Albert Einstein? Für den muss man raus nach Caputh an den Havelseen: Da schippert er am Wochenende mit seiner kleinen Jacht „Tümmler“ herum.

Es gibt schon einige verblüffende Parallelen zwischen den „Goldenen 20er Jahren“ und der heutigen Zeit, die in der Neujahrsnacht erneut in ein 20er Jahrzehnt übergehen wird. Starkult kannte die Weimarer Republik jedenfalls auch. Die „Goldenen 20er“ haben für Deutsche bis heute einen magischen Klang - sie rufen sofort das Bild von „Babylon Berlin“ wach: Varieté-Shows und verruchte Nachtclubs, Weltstadtflair und Avantgardekunst, Marlene Dietrich und „Der Zauberberg“.

Verkürzt und verzerrt

Aber wie golden waren diese Jahre wirklich? „Das mediale Bild der „Goldenen 20er“ ist doch eher verkürzt und verzerrt“, meint Constantin Goschler, Historiker an der Ruhr-Universität Bochum. Zum einen: Die ersten Jahre von 1920 bis 1923 waren nicht golden, sondern schwarz. Ein Umsturzversuch rechter Militärs - der Kapp-Putsch - führte 1920 zur zeitweiligen Flucht der sozialdemokratisch geführten Reichsregierung aus Berlin.

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Danach erschütterten rechtsextremistische Mordanschläge auf demokratische Politiker wie den Abgeordneten Matthias Erzberger (1921) und Außenminister Walther Rathenau (1922) die Republik. Zur selben Zeit vernichtete eine Hyperinflation das Geldvermögen von Millionen Bürgern. Erst 1924 stabilisiert sich die Lage - bis zum Einsturz der Aktienkurse an der New Yorker Börse im Oktober 1929, der die Weltwirtschaftskrise einleitete.

Es waren also nicht mehr als fünf gute Jahre. Und auch hier bedeutet „gut“ sicher nicht „golden“: „Anders als in den USA, wo in den 1920er Jahren schon ein breiter Wohlstandszuwachs der Mittelschichten einsetzte und die moderne Konsumgesellschaft anfing, blieb der materielle Zuwachs in Deutschland bescheiden“, erläutert der Berliner Historiker Paul Nolte.

Zuspitzung auf Berlin

Nicht nur zeitlich und materiell muss die Vorstellung von den „Goldenen 20ern“ eingeschränkt werden, sondern auch räumlich: „Die Zuspitzung unseres Bildes auf Berlin ist stark verzerrend“, meint Goschler. „Die Rolle Berlins im damaligen Deutschen Reich lässt sich vielleicht mit der Rolle von New York in den heutigen USA vergleichen: Was uns oftmals als eine pulsierende, kulturell aufregende und kosmopolitische Metropole erscheint, steht in weiten Teilen der USA für alles, was in der Gegenwart abgelehnt wird. Und so gab es auch in den 20er Jahren eine weit verbreitete Abneigung gegen Berlin, das als Inbegriff der Moderne im negativen Sinne galt.“ 

Golden wirkten die 20er vor allem aus der Rückschau Anfang der 30er Jahre, als in Deutschland Massenarbeitslosigkeit und bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten. Der Beginn der Nazi-Herrschaft dagegen sei von den meisten Deutschen dann wieder „als positiv und als Aufschwung gesehen“ worden, so Nolte. 

“Aber dort leben? Nein, lieber nicht“

Volker Kutscher, der Autor der Romanvorlagen für „Babylon Berlin“, würde nicht mit den Menschen von damals tauschen wollen. „Natürlich würde ich gern einen Blick in das Berlin der 20er werfen, aber dort leben? Nein, lieber nicht“, sagt der Erfinder von Kommissar Gereon Rath der Deutschen Presse-Agentur.

„Ich bin froh, in der heutigen Zeit zu leben“, stellt Kutscher klar. „Natürlich ist längst nicht alles perfekt, doch geht es uns in Deutschland heute so gut wie nie zuvor in unserer Geschichte, nicht nur was den materiellen Wohlstand angeht. Allerdings wissen wir das nicht immer zu schätzen. Heute geht es darum, die Errungenschaften unserer Republik, die Demokratie, die Meinungsfreiheit, den Rechtsstaat zu bewahren und gegen die Anfeindungen, denen sie zunehmend wieder ausgesetzt sind, zu verteidigen.“

Immerhin, meint Paul Nolte, Erfahrungen mit Vertrauensverlust, rechten Parteien und Demokratiekrise haben die heutigen Deutschen ja nun schon in den Nuller- und 10er Jahren gemacht. Für die neuen 20er drehe sich die Perspektive da geradezu um: „Dann fragen wir uns erwartungsvoll, ob wir in den 2020er Jahren aus der Misere allmählich herauskommen, ob wir in ein neues „goldenes Jahrzehnt“ kommen, in dem Demokratie sich wieder stabilisiert, ein neuer gesellschaftspolitischer Konsens gefunden wird.“ Vielleicht hat Deutschland die echten „Goldenen 20er“ ja noch vor sich.