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1984 ereignete sich im indischen Bhopal eine Chemiekatastrophe. Bis zu 25.000 Menschen starben. Noch heute leiden viele unter den Folgen des Gifts, die Regierung wiegelt ab.

Bhopal - Anfang Dezember 1984 ereignete sich im indischen Bhopal eine Chemiekatastrophe, durch die bis zu 25000 Menschen starben. Noch heute leiden viele unter den Folgen des Gifts, die Regierung wiegelt ab.

Seit 25 Jahren kommt Mohammed Sultan in das Krankenhaus im indischen Bhopal, nur ein paar Hundert Meter von der ehemaligen Chemieanlage entfernt. Manchmal bleibt der 66-Jährige nur ein paar Tage, dann wieder Wochen auf der Station im zweiten Stock. Das Gift, das am 3. Dezember 1984 bei einem Unfall aus dem Werk des US-Chemiekonzerns Union Carbide austrat, hat die Atemwege des vierfachen Familienvaters verätzt. Seither ist jede Anstrengung zu viel für ihn, arbeiten kann er nicht mehr. Er holt ein Asthma-Spray aus seiner Hosentasche. Das Mittel hilft ihm, wenn er wieder das Gefühl hat zu ersticken.

Das Unglück kam kurz nach Mitternacht am 3. Dezember 1984: In der Fabrik traten bei Reinigungsarbeiten um die 40 Tonnen hochgiftiges Methylisocyanat aus dem Lagertank 610 der Pestizid-Produktionsanlage aus. Der gesamte Tankinhalt verflüchtigte sich in weniger als zwei Stunden, und das Giftgasgemisch schädigte Haut, Augen, Lungen und Schleimhäute der Menschen. Bis heute kennt keiner die genaue Zahl der Opfer.

Nach Schätzungen starben zwischen 10.000 bis 25.000 in den ersten Tagen nach der Katastrophe. Um die 500.000 erlitten teils bleibende Gesundheitsschäden. Mohammed erinnert sich noch genau an die Nacht, die sein Leben und das von Bhopal veränderte. "Ich bin um elf Uhr schlafen gegangen, um 1.30 Uhr hörte ich Lärm und sah, dass die Menschen panisch flohen. Ich rannte zusammen mit meiner Familie um mein Leben. Eingekeilt in die Massen fiel ich zu Boden und verlor das Bewusstsein."

Drei Tag lang konnte Mohammed nichts sehen. Seine Augen waren zugeschwollen, die Schmerzen in den Lungen und in den Augen unerträglich. Dann musste er, wie viele Betroffene, auf Geheiß der Regierung die Stadt verlassen. Der damalige Premierminister Rajiv Gandhi besuchte den Unglücksort. Die Leute sagen, die Stadtverwaltung von Bhopal wollte dem Regierungschef den Anblick so vieler verletzter und entstellter Menschen nicht zumuten. Mohammed hatte Glück und kam in einem muslimischen Schrein 50 Kilometer von Bhopal unter, wo sich Menschen um den Verletzten kümmerten. Erst zu Weihnachten konnte er wieder nach Hause zurückkehren - in eine Kolonie nahe der alten Chemiefabrik.

Betroffene bekamen kaum Entschädigung

"Die Katastrophe hat sein Leben ruiniert", sagt der Arzt Mazahri Malik. Als sich die Giftwolke heranwälzte, war er als Assistenzarzt in einer Klinik in der Nähe der Chemiefabrik im Dienst. "Nach ein Uhr kamen immer mehr Menschen", erinnert er sich. "Sie husteten, übergaben sich, konnten kaum atmen, hatten brennende Augen und Krämpfe. Wir haben damals fast Tag und Nacht durchgearbeitet". Auch 25 Jahre später kommen täglich immer noch über 1000 Menschen, die an den Folgen der Katastrophe leiden, in das Regierungskrankenhaus nahe des Unglückorts. Mohammed Sultan ist nur einer von ihnen. Union Carbide, dem der indische Betrieb zur Hälfte gehörte, hat um die 500 Millionen US-Dollar an die indische Regierung als Entschädigung für die Opfer gezahlt. Doch nur wenig davon ist bei den Betroffenen angekommen, Bearbeitungen der Anträge und Auszahlungen der Mittel zogen sich über Jahre hin.

Trotz der Schwere seiner Behinderung kam Mohammed Sultan gerade einmal in die Opfer-Kategorie C. Er erhielt eine Einmalzahlung in Höhe von gerade einmal 40.000 Rupien (umgerechnet etwa 600 Euro). Das Geld sei für Medikamente und Behandlungen draufgegangen, klagt er. Von einer monatlichen Opferrente kann er nur träumen. Kritiker behaupten, die Hälfte des Vermögens im Entschädigungsfonds sei überhaupt noch nicht ausgezahlt worden. Die Regierung scheint darüber auch gar nicht mehr zu verfügen.

"Das Geld ist weg", sagt der zuständige Minister Babular Gaur. Grüne Hügel und ein künstlicher See trennen seine Residenz von den Industrie- und Armenvierteln, wo Union Carbide damals das Insektengift Sevin herstellte. Jeden Monat besichtige er das alte Fabrikgelände und die Krankenhäuser, die sich um die Gasopfer kümmern. Er sieht entspannt aus. Für ihn ist die Katastrophe Vergangenheit: "Da ist nichts mehr."

Tota Ram Chauhan, ein früherer Angestellter von Union Carbide, wird wütend, wenn er das hört. Zehn Jahre lang war Chauhan Chemiearbeiter im Werk. "20 Prozent der Anlage sind hoch belastet", sagt der 55-Jährige. Oft kommt er an seiner alten Arbeitsstätte vorbei. Manchmal führt er Besucher herum, dort, wo Bäume die verrosteten Anlagen der Chemie-Fabrik überwuchern. Er zeigt ihnen die alten Tanks und Kessel, die verrotten und die dennoch keiner abräumt. Wenn man genau auf die Erde schaut, sieht man kleine Quecksilbertropfen glitzern, die vom Unfall stammen sollen. "Die Fabrik verseucht immer noch das Wasser", klagt Chauhan. "Man kann die Chemikalien riechen. So viele Menschen haben Gesundheitsprobleme." Um die Fabrik herum leben rund 100.000 Menschen in Slums.

Die Regierung hat keinen Plan, sie umzusiedeln "Die Leute leben dort, weil sie es so wollen. In einer Demokratie können wir die Leute nicht zwingen, umzuziehen", erklärt Minister Gaur lächelnd. In einer großen Voliere in seinem Garten fliegen Wellensittiche und Kanarienvögel. "Sind ihre Farben nicht schön?", fragt der Minister.